Vision - das Zeichen der Liebenden
Egal, was passieren würde, ihr Bruder würde sie ganz bestimmt nicht im Stich lassen. In seiner Anwesenheit kam ihr das ganze Vorhaben gleich nicht mehr so gefährlich vor.
Erik tauchte auf, er hatte gute Nachrichten. »Ich hab das Tor geknackt«, berichtete er leise. »Es war viel einfacher als gedacht: Es gab weder ein Sicherheitsschloss noch eine Alarmanlage. Also los, worauf warten wir noch?«
Im Nu hatten sie den Hof durchquert. Erik machte sich kurz am Schloss der großen Flügeltür zu schaffen, bis dieses aufsprang und ihnen den Zugang zum Hauptgebäude von Los Olmos freigab.
In der Eingangshalle war es stockfinster. Rasch knipste Jana ihre Taschenlampe an und ging voraus. Sie wusste noch ungefähr, in welcher Richtung die Tür zu dem Hof lag, wo sie beim letzten Mal die Spur des Turms verloren hatte. Als sie davorstand, trat sie beiseite, um Erik vorzulassen.
Stumm leuchtete er mit der Taschenlampe, die Jana ihm gereicht hatte, in den Hof, bevor er ihn betrat, gefolgt von Jana und David. Schweigend beobachteten sie, wie der Lichtkegel der Taschenlampe über Wände und Boden wanderte, als Erik noch einmal systematisch alles absuchte.
»Hier ist nichts«, sagte David schließlich entmutigt. »Kein geheimer Eingang, kein Durchschlupf. Einfach nichts. Wir werden woanders suchen müssen.«
»Du irrst dich.« Erik steuerte auf die Mitte des Hofs zu. »Der Turm ist hier, ich kann ihn spüren. Aber er wird sich uns nur zeigen, wenn wir beweisen, dass wir es wert sind, einzutreten.«
Die Geschwister sahen ihn an, als hätte er den Verstand verloren.
»Was meinst du denn damit?«, fragte Jana alarmiert.
Erik zog langsam das Schwert, das er an seinem Gürtel trug, aus der Scheide und wog es ehrfürchtig in den Händen. »Aranox wird uns helfen. Geht in Deckung, ich rufe jetzt einen mächtigen Zauber herbei. Ich habe keine Ahnung, ob es mir gelingt, ehrlich gesagt, mache ich das gleich zum ersten Mal.«
Jana und David wichen sofort zurück, bis sie mit dem Rücken an einer der Wände standen. Von hier beobachtete Jana, wie Erik sein T-Shirt auszog und auf den Boden fallen ließ. Einen Moment lang hielt er das Schwert senkrecht vor das Drachen-Tattoo auf seiner Brust, dann stieß er es mit beiden Händen nach unten, bis die Spitze den Boden berührte.
Tief unter der Erde hallte ein ferner Donner wider, einen Augenblick lang spiegelte sich das Drachen-Tattoo verzerrt und vergrößert im rauen Zementboden. Ein zweites Mal klopfte Erik mit dem Schwert auf den Boden und wieder donnerte es, diesmal schon näher und bedrohlicher. Beim dritten Donner zerbarst der Untergrund zu Eriks Füßen in tausend Stücke, der vierte wurde von einem rot leuchtenden Blitz begleitet.
Dann ging alles rasend schnell: Die Donnerschläge kamen in immer kürzeren Abständen, rhythmisch wie Trommelwirbel, bei jedem einzelnen zerriss ein purpurroter Blitz den schwarzen Himmel und ließ die Hauswände, die den Innenhof umgaben, brüchig werden. Als die erste eingestürzt war, erspähte Jana dahinter den riesigen Schwanz eines monströsen Reptils, der durch die Luft peitschte.
Der Donner setzte sich fort, er folgte dem Rhythmus, den Eriks Schwert vorgab. Unter ihren Füßen begann sich der Boden zu wölben, und als Jana nach unten sah, stellte sie entsetzt fest, dass sie auf dem schuppigen Bauch eines gigantischen Ungeheuers standen. Neben ihr stieß David einen erstickten Schrei aus, auch er hatte begriffen, was gerade geschah. Der silberne Drache, der bis eben noch auf Eriks Haut geschlummert hatte, war zum Leben erwacht und schien dabei zu sein, die Welt zu verschlingen.
Alles war so schnell vorbei, wie es begonnen hatte. Jana wurde nach oben gezogen und wirbelte durch die Luft. Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, waren es Holzdielen. Überrascht blickte sie sich um. Sie stand in einem achteckigen Raum, nur in eine der Wände war ein Fenster eingelassen, durch das ein Stück Sternenhimmel zu sehen war. In den Ecken brannte ein halbes Dutzend Kerzen und an der Wand gegenüber dem Fenster hing ein seltsamer Apparat, von dem Jana sich nicht erinnern konnte, ihn in ihrer Vision gesehen zu haben.
Genau vor diesem Apparat stand Alex reglos im Halbdunkel.
Als Jana ihn erkannte, schrie sie auf und schlug die Hände vors Gesicht. Eine Sekunde hatte genügt, um zu erkennen, wie sehr er sich verändert hatte. Es war Alex, daran bestand kein Zweifel, und doch kam es ihr vor, als betrachtete sie einen völlig Fremden. Von
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