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Grim - Das Erbe des Lichts

Grim - Das Erbe des Lichts

Titel: Grim - Das Erbe des Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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Kapitel 1

    er Schnee fiel aus der Dunkelheit des Himmels wie Mehl aus einem unsichtbaren Sieb. Grim fühlte die Flocken als winzige Splitter aus Eis auf seinem Gesicht, als er die Klauen auf die Brüstung des Turms Saint Jacques legte und den Blick über die Straßen von Paris gleiten ließ. Der Wind ließ seinen Mantel flattern und strich mit frostigen Fingern über seine Schwingen. Grims dunkle Gestalt verschmolz beinahe mit der Nacht, die ihn umgab, und er stand so regungslos da, als wäre er eine der Statuen, die ihn auf seinem Turm umringten. Doch er war mehr als das. Trotz des Mantels drang die Kälte durch seine steinerne Haut und zog die Hitze des Albtraums aus seinen Gliedern, der ihn wie in jeder verfluchten Nacht der vergangenen Wochen wieder einmal aus dem Schlaf gerissen und hinaus auf seinen Turm getrieben hatte.
    Es herrschte eine ruhige, fast friedliche Stille in der Stadt, und selbst der Verkehr, der unaufhaltsam durch die Straßen pulste mit seinen weißen und roten Lichtern, klang nur dumpf zu Grim herauf. Jeder Ton wurde von der Decke aus Schnee gedämpft, die sich auf den Dächern niedergelegt hatte und die Menschen seit Wochen in Verzücken versetzte, als würde sie ein wunderbares Geheimnis ankündigen, das sich bald offenbaren würde. Grim schnaubte verächtlich. Menschen!
    Das Wort klang fremd in seinen Gedanken wider und ließ ihn die Hand zur Brust heben. Er fühlte die leisen Schläge seines menschlichen Herzens in seinem steinernen Körper, und wieder einmal überkam ihn ein Gefühl wie in jenen lang vergangenen Nächten vor über zweihundert Jahren, in denen er allein durch Italien geirrt war, fremd und heimatlos und wohl ahnend, das einsamste Geschöpf der Welt zu sein. Eine beklemmende Kälte hatte damals hinter seiner Stirn gesessen, eine stumme, haltlose Verzweiflung und Ruhelosigkeit. Damals hatte er geglaubt zu wissen, was Einsamkeit war. Doch er hatte sich geirrt. Seit etwa einem Jahr nun lebte er in der Gewissheit, dass er ein Hybrid war, und er spürte noch immer den Riss in seinem Inneren, die Kluft zwischen seinem menschlichen Ich und dem Anderwesen, das er war, wie einen Abgrund aus Finsternis. Immer schon hatte er zwischen den Welten gelebt, zerrissen von einer namenlosen Sehnsucht nach beiden Seiten. Anfangs hatte er geglaubt, diesen Konflikt mit der Erklärung seiner Erschaffung lösen zu können. Doch die vergangenen Monate hatten ihn eines Besseren belehrt. Er war nicht wie gewöhnliche Hybriden, war nicht auf natürlichem Weg geboren, sondern mit magischer Kraft erschaffen worden aus Stein und Fleisch. Er war kein Anderwesen mehr, das in die Schatten von Paris gehörte, war jedoch auch kein Mensch, der in den warmen Wohnungen der Sterblichen heimisch hätte werden können. Er war ein Gargoyle mit dem Herzen eines Menschen.
    Er atmete tief ein und vertrieb die aufwühlenden Gedanken mit der kühlen Schwere seines steinernen Blutes. Der Schnee auf den Dächern glitzerte wie eine Verheißung. Gern hätte Grim sich wenigstens für einen Augenblick der Sehnsucht der Menschen hingegeben, der Träumerei nach dem Zauberhaften und Unmöglichen, die von den weißen Flocken beschworen wurde und den Eindruck vermittelte, dass die Welt gut war. Doch Grim wusste es besser: Der schöne Schein war eine Lüge. Schnee war kein sanfter Zauberer, kein guter Geist aus einer anderen Zeit, der gekommen war, um die Welt der Menschen für eine Weile stiller und friedlicher zu machen. Schnee tat nur eines: Er kündigte Unheil an. Mit ihm hatte alles begonnen. Vor genau fünf Wochen hatte sich das Böse unter die Menschen gemischt, lautlos und kalt wie der Schnee, mit dem es gekommen war und von dem die Menschen sich so gern verzaubern ließen. Narren, alle miteinander.
    Ein namenloses Grauen schlich durch die Gassen von Paris, das niemals Spuren hinterließ — bis auf seine Opfer. Fünfunddreißig Leichen waren es inzwischen, ein Mensch pro Nacht, und keiner von ihnen war auf Menschenart getötet worden. Ein Anderwesen steckte dahinter, so viel stand fest. Die Schattenflügler der OGP hatten sich bemüht, alle Leichen zu bergen, ehe die Menschen sie fanden, doch es war ihnen nicht in allen Fällen gelungen, und nun mehrten sich in den Boulevardblättern die Spekulationen über die Hintergründe der rätselhaften Morde; auch übernatürliche Ursachen wie außergewöhnliche Formen des Vampirismus wurden dabei für möglich gehalten.
    Grim wusste zwar, dass kein Pariser Vampir etwas mit den

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