Vision - das Zeichen der Liebenden
Erstes Buch – Jana
Kapitel 1
Diese Nacht würde anders sein als alle anderen Nächte zuvor.
Das war ihm in dem Moment klar, als er die Haustür aufmachte und Erik vor ihm stand, die Augen schwarz geschminkt, auf den Lippen ein vielsagendes Lächeln. Hinter ihm warteten zwei Mädchen in eleganten Klamotten – und der Sportwagen von Eriks Vater, den Erik nur zu besonderen Gelegenheiten geliehen bekam. Das größere der beiden Mädchen erkannte Alex sofort: Marta, Eriks ewige Verehrerin. Die andere, eine Rothaarige mit großen, ängstlichen Rehaugen, hatte er noch nie gesehen.
»Ein Nein gibt’s nicht, du brauchst es gar nicht erst zu versuchen«, stieß Erik ohne ein Wort der Begrüßung hervor, drängte sich an ihm vorbei in den Hausflur und ließ seinen Blick auf der Suche nach Alex’ Jacke über die Garderobe wandern. »Heute ist die Party im Molino Negro. Ich hab’s selbst auch gerade erst erfahren. Dieses Jahr machen sie es so spät, damit die Feier nicht mit dem Schuljahresbeginn zusammenfällt. Das darfst du auf keinen Fall verpassen. Außerdem spielen sie Emo-Musik, es wird dir also mit Sicherheit gefallen.«
Erik hatte die Jacke, die er suchte, entdeckt, er zerrte sie unter einem Mantel von Alex’ Mutter hervor und warf sie Alex zu. Der schlüpfte, ohne nachzudenken, hinein, dann folgte er seinem Freund, überrumpelt von dessen Entschlossenheit, auf die Straße. Die beiden Mädchen hoben zur Begrüßung flüchtig die Hand. Alex erwiderte den Gruß, dann drehte er sich wieder zum Haus, ließ den Blick ins erleuchtete Innere wandern. Auf einmal zögerte er, die Tür hinter sich zuzuziehen.
»Erik, ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt Lust auf eine Party habe«, protestierte er schwach. »Außerdem habe ich meiner Mutter nicht Bescheid gesagt. Sie macht sich bestimmt Sorgen, wenn sie nach Hause kommt und ich bin nicht da…«
»Sei kein Blödmann, Alex. Sie wird nicht mal merken, dass du nicht da bist. Geht sie je in dein Zimmer, wenn sie aus dem Labor kommt?«
»Sie vertraut mir eben«, erwiderte Alex mit einem Lächeln, doch gleichzeitig lag eine Spur Ernst in seinem Gesicht. »Schließlich bin ich kein Kind mehr.«
»Verlass dich auf mich: Sie wird gar nicht merken, dass du ausgeflogen bist«, wiederholte Erik. »Und jetzt komm oder willst du den ganzen Abend hier rumstehen? Ich möchte jedenfalls nicht zu spät zur Party kommen.«
Alex folgte Erik zu dem nagelneuen metallicfarbenen BMW, wo Marta bereits auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. Das andere Mädchen stand unentschlossen an der geöffneten hinteren Wagentür.
»Das ist übrigens Irene.« Erik strich ihr flüchtig übers Haar. »Irene, und das ist Alex. Lass dich nicht von seinem dümmlichen Gesichtsausdruck täuschen, das ist bloß Fassade. In Wirklichkeit ist er ein richtiger Partylöwe. Ich an deiner Stelle wäre vorsichtig, dass er dich nicht auffrisst. Aber vielleicht möchtest du ja auch gefressen werden?«
Erik lachte über seinen eigenen Witz, während er sich hinter das Lenkrad fallen ließ und Irene und Alex ein wenig verlegen hinten einstiegen. Marta drehte sich um und schenkte Alex ein strahlendes Lächeln. Ihr rundes Gesicht war dem Anlass entsprechend stark geschminkt.
Mit einem weichen Schnurren sprang der Motor an und Erik reihte sich in den Verkehr zur Ciudad Vieja, der Altstadt, ein. Draußen huschten die dunklen Silhouetten der Bäume vorbei, hin und wieder abgelöst von den hell erleuchteten Säulenportalen der Villen.
»Wenn du magst, dann schminke ich dich«, sagte Irene unvermittelt. Ihre Stimme klang dunkel und rau, wie die Stimme einer älteren Frau. »Du kannst schließlich schlecht ungeschminkt auf einer Emo-Party aufkreuzen. Zum Glück habe ich alles dabei. Lass mal hören… In welcher Stimmung bist du? Nein, warte, ich will es selbst herausfinden. Ich kann nur leider dein Gesicht nicht richtig erkennen…«
Ohne das Tempo zu drosseln, öffnete Erik das Handschuhfach, beugte sich zur Seite und zog eine Taschenlampe heraus. Er warf sie über die Schulter nach hinten, wo sie auf Irenes schwarzem Rock landete. Irene knipste die Lampe an. Sie richtete den Lichtkegel direkt auf Alex’ Gesicht, sodass dieser unwillkürlich die Augen zusammenkniff und sich wegdrehte.
»Du siehst gut aus«, sagte Irene so laut, dass sie auch im vorderen Teil des Wagens zu hören war. »Wenn auch nicht ganz so gut wie dein Freund.«
Marta lachte kurz auf. Unsanft hielt Irene Alex am Kinn fest und begann, ihm die
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