Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
kleinen Momentgemeinsam zu genießen.« Mit einer Handbewegung bat sie darum, dass die Gäste wieder Platz nahmen, und ließ sich nieder.
Zuletzt hatte Landon Mary im Theater getroffen, damals war sie noch in Begleitung ihres Vaters gekommen. Von jeher war sie selten bei gesellschaftlichen Anlässen erschienen, und nach dem Tod des Vaters hatte sie sich vollkommen zurückgezogen. Aufgeweckt und unbekümmert hatte er sie in Erinnerung, doch heute lag auf ihrem ovalen Gesicht etwas Kränkliches. Auch der Puder und das Cochenille auf ihren Wangen konnten es nicht verbergen.
James Canaughy taxierte sie. Ein fünfarmiger Kandelaber, der in der Tischmitte stand, nahm ihm den Blick. Er beugte sich vor. Sein starrer Blick wanderte Marys Hals herab, tastete über Brüste, Schultern und Arme.
Ich bin nicht besser
, fuhr es Landon durch den Kopf,
ich starre sie ebenfalls an.
Abermals zog er sein Messer durch das Fleisch und betrachtete die dunkle Sauce, die sämig von der Klinge tropfte.
Das Dienstmädchen fasste nach dem Blasebalg, um das Feuer zu entfachen. Die braunrote Wandtäfelung ließ den weißgetünchten Kaminsims leuchten. Die Flammen flackerten auf und warfen Schatten, die auf Marys Schultern tanzten.
Landons Blick verlor sich auf einem schwarzglühenden Holzscheit, das knisternd zerfiel. Zu gern hätte er Mary in ein Gespräch verwickelt, sie erheitert, ein wenig abgelenkt, aber kein Wort wollte ihm einfallen, mit dem er sich an sie wenden konnte. Wie sprach man eine kluge Frau an?
Bei einer Kunstausstellung war er mit ihr bekannt gemacht worden. Erstaunt hatte es ihn, dass sie sich so exzellent auf Malerei verstand. Schon zuvor hatte er davon gehört, dass sie ihrem Vater bei seiner Arbeit zur Seite gestanden hatte. Die Gemüter hatten sich daran erhitzt, dass eine Frau den Arzt begleitete, doch ob der Erfolge, die er in seinen Behandlungen erzielt hatte, waren auch die letzten Schandmäuler irgendwann verstummt. Ja, da war er sicher, sie war sehr klug. Er lächelte.
Die Wangen von Peter Wallis’ Frau waren vom Wein gerötet. Mittlerweile war sie mit Mary ins Gespräch vertieft. Das Dienstmädchen stakste an den Tisch und trug die Teller ab. Landon beugte sich vor, um der Unterhaltung der Frauen zu folgen. Vielleicht ergab sich die Gelegenheit, etwas einzubringen, um für einen Moment ihren Blick für sich zu haben.
»Das ist nicht Euer Ernst«, sagte Mrs. Wallis just und schlug die Hand vor den Mund.
Mary nickte. »Doch, die fadenspinnende Gespinstmotte ruiniert die Obstbäume. Und so ist es, nicht nur zum Schutz der Ernte, wichtig, sich den Befall und die Größe der Populationen genauer anzuschauen.«
»Ihr fasst dieses Tierzeugs an?« Mrs. Wallis schaute erheitert zu ihm hinüber. »Was sagt Ihr dazu, Mr. Reed?«
»Oh, ich hörte von Miss Linleys Furchtlosigkeit. Und von ihrer Vorliebe für die heimische Gespinstmotte.«
Amüsiert ergriff Mrs. Wallis ihr Glas, und Mary sah ihn an. Kurz nur, aber sie lachte. Ihm wurde warm.
Obgleich Canaughy immer noch ohne Unterlass auf Mrs. Fincher einsprach, versuchte diese, der Unterhaltung ihrer Nichte zu folgen. Auf dem Gesicht und am Hals der Gastgeberin hatten sich rote Flecken gebildet. Sie klatschte in die Hände, und das Mädchen trug ein Tablett mit Kristallkelchen herein. Als sie Mary eines der Gläser mit weißlichem Sorbet reichte, schüttelte die dankend den Kopf, schob den Stuhl zurück und erhob sich. »Meine Damen, meine Herren. Das Essen hat mich erschöpft. Gern würde ich mich, wenn ich darf, jetzt zurückziehen.« Sie schaute Mrs. Fincher abwartend an, die sich die Serviette vor den Mund presste, sie sinken ließ und nickte.
»Natürlich, mein Kind, wenn du unpässlich bist, möchten wir deine Gesellschaft nicht über Gebühr beanspruchen. Gern werde ich dich auf dein Zimmer geleiten.«
Mrs. Wallis warf ihm einen Blick zu. Landon schluckte und erwiderte den Blick.
Ja, Mary kann doch jetzt noch nicht gehen. Können wir sie nicht aufhalten? Ich habe fast kein Wort mit ihr gewechselt.
Doch Mrs. Wallis rührte sich nicht, und auch er blieb stumm.
Noch einmal drehte Mary sich um. Kurz hoffte Landon, sie möge es sich überlegt haben, doch sie wünschte den Gästen nur eine gute Nacht und verschwand.
Als die beiden Frauen das Zimmer verließen, hörte er Mrs. Fincher zischen: »So geht das nicht weiter. Du zwingst mich geradezu, andere Saiten aufzuziehen.«
Dann erst wurde die Tür geschlossen. Alle schauten
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