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Vom Himmel das Helle

Vom Himmel das Helle

Titel: Vom Himmel das Helle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Diechler
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das Nichts in ihren Körper und erschuf ein Duplikat ihrer Selbst. Einen zweiten Körper, von dem sie nie gewusst hatte.
    Er kam den letzten, entscheidenden Schritt auf sie zu. Sie sah seine Füße, die in tadellosem Zustand waren. Seine schmalen Knöchel, die Vorhut der Waden. Borstige schwarze Haare auf seinem Fleisch. Das Knistern seines Hemdes, das blütenweiß, ohne Blut, ohne Schweiß, ohne alles auf ihm lag. Er war so unbefleckt. So rein. Barfuss war er über den Teppich gehuscht. Als wisse er, dass er nicht hierher gehörte, dass er ein Kind der Finsternis und der Verdammnis war. Er lächelte schroff, zog sich plötzlich Socken über und bückte sich zu ihr hinunter, wie man sich zu einem hilflosen Kind hinbewegte. Sie spürte, wie er ihr Handgelenk packte und sie zwang die Tabletten hinunterzuwürgen. Eine nach der anderen verschwanden sie im dunklen Loch, ihrem weit aufgerissenen Mund. Anfangs verschluckte sie sich. Wieder und immer wieder. Er schwieg dazu. Vollkommen ruhig. Nach etlichen Versuchen gelang es ihr, die Tabletten hinunter zu schlucken. Das Wasser, das er ihr in den Mund goss wie in einen Brunnen, der seit Langem ausgetrocknet war, rann ihr an den Mundwinkeln vorbei, das Kinn hinunter. Zwischen dem Schweiß ihrer Brüste suchte es sich einen Weg, bis es am Bauch festklebte und aufhörte zu sein. Es schien so, als könnte ihr Leben an diesem Tag nicht länger auf sie warten. Es überflutete sie, als habe das Hochwasser sämtliche Schutzdeiche aufgeweicht und zum Bersten gebracht.
    »Ich warte, bis die Wirkung der Tabletten einsetzt«, versprach er und lächelte genauso harsch wie zuvor. Sie spürte ein unmerkliches Nicken, als müsse sie sich bei ihm bedanken. Als wisse sie im Detail, was auf sie zukam. Als sei das der zweite Versuch nach einer erfolgreich verlaufenen Generalprobe. Aber das stimmte nicht. Das hier war live. Das hier war das erste Mal, dass ihr jemand Gewalt antat. Das hier war nicht gespielt, es war eine Aufführung in Echtzeit.
    »Es wird trotzdem wehtun, höllisch wehtun. Aber es geht nicht anders. Wir haben keine andere Wahl«, schien er zu versprechen. Sein Gesicht zwang sich zu einem gewöhnlichen Blick. Den Blick, den er tagtäglich trug. Es gelang ihm nur halbherzig, dieses Starren zu halten. Doch als er nach weiteren qualvollen Minuten aufstand, seinen Körper aus dem wuchtigen Sessel hob und erneut zum zweiten Anlauf zu ihr hinüberkam, entglitt ihm sein Gesicht in eine Grimasse. Ihr Leben hatte so lange einer Festung geglichen, die niemand einnehmen konnte. So lange. Bis jetzt.
    »Augen schließen!«, befahl er. Kein Zaudern. Kein Zögern. Kein Mitgefühl. »Niemand soll mir dabei zusehen, wie ich dieses wunderschöne Gesicht demoliere. Es tut mir leid, fürchterlich leid.« Seine Stimme brach wie einer der Äste draußen als Folge des unbändigen Sturms, der sich hier drinnen in dem weitläufigen Wohnsalon fortsetzen sollte. Sie sah in Zeitlupentempo, wie seine Hand nach hinten stob, als müsse sie Anlauf nehmen. Die Finger ballten sich in einer einzigen Geste, rotteten sich zusammen. Die Faust war geboren. Hastig gehorchte sie ihm und schloss die Lider, bevor der erste Schlag sie frontal traf. Sofort spritzte eine Fontäne Blut aus ihrer Nase. Sie spürte es warm und klebrig an sich festwachsen. Dann ging alles ganz schnell. Er schlug auf sie ein, drosch auf ihr Gesicht, prügelte ihren Körper. Sie rollte sich zusammen, instinktiv, wie ein Tier. Er schlug sich in eine Spirale aus Zorn, Wut und ungenannter Gewalt. Wie von Sinnen. Wie ein Tier, auch er. Almut spürte, wie die Tritte in die Nieren sie erschütterten, dann folgten die in den Magen. Ein Feuerwerk an Schlägen, das niemals aufhören würde. Niemals, das wusste sie genau.

Fünf

    Der deutsch-israelische Psychoanalytiker Erich Neumann, der 1933/34 bei Carl Gustav Jung eine tiefenpsychologische Ausbildung absolvierte, hatte in einem seiner Bücher definiert, dass Mörder und Ermordete zusammengehörten. Dieser Satz fiel mir plötzlich zu wie ein lange verloren geglaubter Schlüssel, nach dem ich nicht gesucht, den ich aber gefunden hatte. Es passierte, als ich meinem Vater dabei zusah, wie er fasziniert auf das Foto eines schwarz-grünen Würfels starrte. Offenbar das Werk eines bedeutenden Künstlers. Ich hatte Mark fast vergessen und das war gut so. Ich war wieder ich selbst. Alles schien normal zu sein. Ich lebte wie die anderen Menschen um mich herum auch. »Diese Art von Bildern ist am schwersten zu

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