Vom Schisser zum Glückspilz in sechsundzwanzig Tagen
richte meinen Schlafplatz ein. Im nächsten Augenblick ist die Dame
verschwunden, und die anderen tun das, was sie schon vorher und ausschließlich
hätten tun sollen: Sie kümmern sich um ihren eigenen Kram. Ich fühle mich
gerade komplett fremd hier. Langsam zweifle ich daran, ob das alles wirklich so
toll ist wie alle tun.
Es ist kurz nach neunzehn Uhr,
das Stadtbild Logroños wird von exzentrischen Schwulen und einer lautstarken
Hochzeitsgesellschaft geprägt. Die letzten Stunden habe ich damit verbracht,
ziellos die Altstadtstraßen abzulaufen. Nun sitze ich hier in einer taberna vor der Concatedral de Santa María de la Redonda, gönne mir ein Bier und warte
auf die calamares. Auf ein Pilgermenü mit lauter unbekannten Menschen
habe ich keine Lust. Mir ist heute einfach nicht nach Geselligkeit und
erzwungenen Gesprächen. Vor allem sehe ich mich gerade absolut nicht als
Pilger. Erstens bin ich bisher keinen einzigen Kilometer auf dem Camino
gewandert, zweitens gehöre ich weder seelisch noch optisch zur erhabenen
Pilgergemeinschaft, und drittens komme ich mir vor wie ein Fremdkörper, der in
einen geschlossenen Kosmos eindringt. Wenigstens sehe ich weit und breit keinen
Pilger, der auf die Idee kommen könnte, sich zu mir zu gesellen. Was mir
allerdings gerade Kopfzerbrechen bereitet: Mir fällt nicht mehr ein, wie man
auf Spanisch die Rechnung bestellt. Um meine Ängste nicht noch weiter zu
befeuern, habe ich meine Vokabelnotizen letztendlich dann doch zu Hause
gelassen. Schließlich wollte ich hier in Spanien nicht wie ein schlecht
vorbereiteter Tourist ständig auf eine Vokabelliste starren. Nach einer halben
Stunde vergeblichen Nachdenkens habe ich die Schnauze voll, ich benutze die
internationale Zeichensprache und wedle mit einem Zehner.
Vor etwa zwei Stunden noch lag
der Kathedralvorplatz verlassen da, doch jetzt wird jeder Quadratzentimeter von
enthusiastischen, lebensfrohen Einheimischen in Beschlag genommen. Plötzlich
tollen kreischende chicos y chicas um die Hüften der Erwachsenen,
spielen ausgelassen und ändern ihre eigenen Regeln im Fünfminutentakt. Während
die untergehende Sonne den Platz, das Gotteshaus, die morschen Häuserfassaden
in schimmernd rotes Licht taucht, schlurfe ich etwas verloren zur Herberge
zurück. Ich setze mich in den Hof etwas abseits der anderen und beobachte das
Pilgertreiben. Die Tische haben sich inzwischen auf beeindruckende Weise mit
leeren San-Miguel-Dosen gefüllt, was selbstverständlich nicht ohne Folgen
bleibt. Es wird gescherzt, gekreischt, gelacht. Noch etwas nehme ich — kaum
überrascht — zur Kenntnis: Fast alle Pilger hier sprechen Deutsch. Noch
verspüre ich allerdings keinen großartigen Drang, mich als deutschsprachig zu
outen. Nach und nach verschwinden die Pilger in den Schlafräumen, und da ich
zurzeit noch in der Ich-imitiere-erst-einmal-alles-Phase bin, schließe ich mich
ihnen an und lege mich aufs wackelige Bettgestell. Der erste Tag ging
erstaunlich glatt. Ich bin gespannt, wie die erste Nacht wird.
Sonntag, 30. August 2009
Ich erinnere mich blass an zwei
Dinge. Zum einen ging es gestern Nacht draußen in den Altstadtgassen höllisch
laut zu, ein paar Jugendliche ließen sich mehr als gehen. Zum anderen turnte
auf dem Nachbarbett jemand die ganze Nacht wild herum. Da die Metallstockbetten
alles andere als stabil sind, wackelten einfach mal gleich vier Personen statt
nur einer. Glücklicherweise hatte meine Müdigkeit bereits narkotisierende
Gefilde erreicht, so dass ich alle Hindernisse auf dem Weg ins Schlummerland
mit einem Bulldozer planierte. In Sekunden war ich einfach mal komplett weg.
Ich schlafe wie ein Murmeltier
und wache erst auf, als die meisten Pilger längst unterwegs sind. Auf meiner
Hüfttasche, die ich am Kopfende ans Bett geschnallt habe, hockt eine fette,
schwarze Bettwanze. Als ich sie zerquetsche, läuft eine Menge Blut heraus. Zum
Glück aber nicht meins. Dieses imprägnierte Laken hat sich bereits nach einer
einzigen Nacht bezahlt gemacht. Mit noch heilem Fleisch und frohen Mutes,
allerdings ohne Frühstück oder Wasser, verlasse ich die Herberge. Nach wenigen
Minuten treffe ich auf die gesperrte Passage. Eine provisorische Umleitung
führt mich über triste Seitengassen ohne Cafés oder Bäckereien, dafür aber mit
geschlossenen, undefinierbaren und vor allem hässlichen Geschäften aus der
Altstadt. Die wenigen Pilger, die außer mir heute Morgen unterwegs sind,
flitzen an mir vorbei, als würde ich
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