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Vorsatz und Begierde (German Edition)

Vorsatz und Begierde (German Edition)

Titel: Vorsatz und Begierde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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bis die Gewalt der Sturmbö vorüber war und sie sich wieder aufrichten konnte. Auch der Himmel war in Aufruhr; die Sterne schimmerten, standen aber sehr hoch, und der Mond segelte hektisch zwischen den zerfetzten Wolken hindurch wie eine Laterne aus dünnem Papier. Während sich Meg den Weg zum Martyr’s Cottage entlangkämpfte, hatte sie das Gefühl, als werde die ganze Landzunge um sie herumgewirbelt wie im urzeitlichen Chaos, so daß sie nicht mehr unterscheiden konnte, ob das Tosen in ihren Ohren vom Wind kam, von ihrem pulsierenden Blut oder von der brüllenden See. Als sie schließlich, völlig außer Atem, die Eichentür erreichte, dachte sie zum erstenmal an Alex Mair und fragte sich, was sie tun sollte, wenn er zu Hause war. Sie fand es seltsam, daß sie nicht früher an diese Möglichkeit gedacht hatte. Sie wußte, daß sie ihm nicht entgegentreten konnte – nicht jetzt, noch nicht. Aber es war Alice, die auf ihr Klingeln öffnete. »Bist du allein?« erkundigte sich Meg.
    »Ja. Alex ist in Larksoken. Komm herein, Meg.«
    In der Diele legte Meg Mantel und Kopftuch ab, hängte beides auf und folgte Alice in die Küche. Sie war offenbar mit dem Korrekturlesen ihrer Druckfahnen beschäftigt gewesen. Nun nahm sie wieder an ihrem Schreibtisch Platz, drehte sich mit dem Sessel um und beobachtete mit ernster Miene, wie Meg sich in ihren Lieblingssessel am Kamin setzte. Eine Weile schwiegen beide. Alice trug einen langen braunen Rock aus feiner Wolle mit einer bis zum Kinn zugeknöpften Bluse und darüber einen ärmellosen, plissierten Überwurf mit schmalen Streifen aus Braun und Gelb, der beinah bis zum Boden reichte. Er verlieh ihr eine fast priesterliche Würde, eine Aura ruhiger Autorität. Im Kamin brannte ein kleines Holzfeuer, das den Raum mit würzigem Herbstgeruch erfüllte, und der Wind seufzte und klagte vertraut durch den Schornstein, nur gedämpft durch die dicken Wände aus dem sechzehnten Jahrhundert. Von Zeit zu Zeit fuhr er bis in den Kamin hinab; dann flammten die Scheite zischend auf. Die Kleidung, der Feuerschein, der Geruch von brennendem Holz, vermischt mit dem feineren Duft von Kräutern und warmem Brot, waren Meg aus vielen ruhigen, gemeinsamen Abenden lieb und vertraut. Der heutige Abend jedoch war auf schreckliche Weise anders. Nach dem heutigen Abend würde diese Küche für sie vielleicht nie wieder Heimat sein.
    »Störe ich?« fragte sie Alice.
    »Wie du siehst, ja, aber das bedeutet nicht, daß mir eine Unterbrechung nicht willkommen wäre.«
    Meg bückte sich, um einen großen braunen Umschlag aus ihrer Schultertasche zu ziehen.
    »Ich habe die ersten fünfzig Druckseiten mitgebracht. Ich habe mich an deine Anweisungen gehalten, den Text gelesen und ausschließlich auf Druckfehler kontrolliert.«
    Alice nahm das Kuvert entgegen und legte es, ohne es anzusehen, auf den Schreibtisch. »Genau das hatte ich beabsichtigt«, erwiderte sie. »Ich konzentriere mich so stark auf die Präzision der Rezepte, daß mir manchmal Fehler im Text entgehen. Ich hoffe nur, es war nicht zuviel Arbeit für dich.«
    »Aber nein, es hat mir Spaß gemacht, Alice. Es hat mich an Elizabeth David erinnert.«
    »Hoffentlich nicht allzusehr. Sie ist so großartig, daß ich ständig fürchte, zu sehr von ihr beeinflußt zu werden.«
    Beide schwiegen. Wir reden, als deklamierten wir einen geschriebenen Dialog, dachte Meg, nicht gerade wie Fremde, aber wie Menschen, die ihre Worte sorgfältig wählen, weil der Raum zwischen ihnen mit gefährlichen Gedanken befrachtet ist. Wie gut kenne ich sie überhaupt? Was hat sie mir jemals von sich erzählt? Höchstens ein paar Einzelheiten aus dem Leben mit ihrem Vater, Fragmente von Informationen, ein paar Sätze, in unsere Gespräche geworfen wie ein brennendes Streichholz, das im Fallen flüchtig die Konturen eines weithin unerforschten Terrains beleuchtet. Ich habe ihr fast alles anvertraut – über mich selbst, meine Kindheit, die Rassenprobleme in der Schule, Martins Tod. Aber ist es jemals zu einer echten, gleichberechtigten Freundschaft gekommen? Sie weiß mehr über mich als jeder andere lebende Mensch. Doch alles, was ich über Alice weiß, ist, daß sie eine gute Köchin ist.
    Sie spürte den steten, fast forschenden Blick der Freundin auf sich ruhen. »Aber du hast dich nicht in diesem Sturm hierher durchgeschlagen, nur um mir die fünfzig Druckseiten zu bringen«, stellte Alice fest.
    »Ich muß mit dir sprechen.«
    »Du sprichst mit mir.«
    Meg hielt

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