Vorsatz und Begierde (German Edition)
Polizei?«
»Nein«, versicherte er. »Ich bin froh, daß du’s mir gesagt hast, aber es ist nicht wichtig. Es hat nichts zu bedeuten. Sie ist einfach im Mondschein spazierengegangen. Ich werd’s keinem sagen.«
»Nicht mal, daß ich am Abend auf der Landzunge war?«
»Nein«, erklärte er energisch, »nicht einmal das. Jedenfalls jetzt noch nicht. Aber nach der Operation werden wir überlegen, was wir tun sollen.«
Nun vermochte er zum erstenmal daran zu glauben, daß es für sie beide eine Zeit nach der Operation geben werde.
51
Mr. Copleys Arbeitszimmer lag auf der Rückseite des Alten Pfarrhofs mit Blick auf den ungepflegten Rasen und die drei Reihen vom Wind verkrüppelter Büsche. Es war das einzige Zimmer im ganzen Pfarrhaus, das Meg niemals betreten würde, ohne zuvor anzuklopfen, und wurde so sorgsam als Mr. Copleys Privatsphäre respektiert, als sei er noch immer mit der Leitung der Gemeinde betraut und brauche ein stilles Plätzchen, wo er seine Sonntagspredigten vorbereiten oder mit jenen Gemeindemitgliedern sprechen konnte, die seinen Rat suchten. Hier las er jeden Tag das Morgen- und das Abendgebet, obwohl die einzigen Zuhörer seine Ehefrau und Meg waren, deren leise Frauenstimmen die Responsorien übernahmen und abwechselnd die Verse der Psalmen lasen. An ihrem ersten Tag im Alten Pfarrhof hatte er Meg liebenswürdig, doch ohne jede Verlegenheit erklärt: »Ich halte in meinem Arbeitszimmer täglich die beiden Hauptandachten, aber fühlen Sie sich bitte nicht zur Teilnahme verpflichtet, es sei denn, es wäre Ihr eigener Wunsch.«
Meg hatte sich entschlossen, an diesen Andachten teilzunehmen – anfangs aus Höflichkeit, später aber, weil dieses alltägliche Ritual, die schönen, halb vergessenen Versrhythmen sie zum Glauben verführten, ihrem Tag eine willkommene Form verliehen. Und das Zimmer selbst schien von allen Räumen in diesem so grundhäßlichen, aber gemütlichen Haus eine besonders unangreifbare Geborgenheit zu gewähren, ein fester Fels zu sein, gegen den die Wogen all jener haßerfüllten, hartnäckigen Erinnerungen an die Schule, der banalen Ärgernisse des täglichen Lebens, sogar der Schrecken des Whistlers und der Bedrohung durch das Kraftwerk vergebens anbrandeten. Sie hatte das Gefühl, daß es sich seit dem ersten viktorianischen Pfarrer nicht erwähnenswert verändert hatte. Die eine Wand war mit Büchern vollgestellt, einer theologischen Bibliothek, die Mr. Copley, wie sie vermutete, heutzutage nur noch selten zu Rate zog. Die Platte des alten Mahagonischreibtischs war gewöhnlich leer, und Meg argwöhnte, daß er den größten Teil seiner Zeit im Lehnsessel verbrachte, von dem aus er in den Garten sehen konnte. Drei Wände waren mit Bildern bedeckt: der Ruderachter aus seiner Universitätszeit mit komisch winzigen Mützen über ernsten jungen Gesichtern mit martialischen Schnurrbärten; die Ordinanden seines theologischen Kollegs; geschmacklose Aquarelle in Goldrahmen, das Ergebnis der großen Reise irgendeines Vorfahren; Stiche der Norwich Cathedral, des Kirchenschiffs von Winchester, des großen Oktagons von Ely. Auf einer Seite des viktorianischen Kamins hing ein einzelnes Kruzifix. Meg hielt es für ziemlich alt und höchstwahrscheinlich wertvoll, aber gefragt hatte sie lieber nicht danach. Der Leichnam Christi war der eines jungen Mannes, schmerzhaft gespannt in seiner letzten Agonie; der weit geöffnete Mund schien zu schreien – entweder triumphierend oder voll Trotz gegen den Gott, der ihn verlassen hatte. Sonst gab es in diesem Arbeitszimmer nichts, das kraftvoll oder beunruhigend wirkte: Möbel, Gegenstände, Bilder – alles sprach von Ordnung, Gewißheit, Hoffnung. Daher hatte sie nun, als sie anklopfte und auf Mr. Copleys freundliches »Herein!« wartete, das Gefühl, nicht nur bei ihm, sondern auch bei diesem Zimmer Trost zu suchen.
Mr. Copley saß, ein Buch auf dem Schoß, in seinem Sessel und machte Anstalten, aufzustehen, als sie eintrat. »Bitte, bleiben Sie sitzen«, sagte sie. »Ich wollte nur fragen, ob Sie ein paar Minuten Zeit für mich haben.«
Sie entdeckte sofort das Aufblitzen von Besorgnis in den blaßblauen Augen und dachte: Er fürchtet, daß ich kündigen will. Deswegen ergänzte sie rasch, aber mit freundlichem Nachdruck: »Als Pfarrer. Ich würde Sie gern als Pfarrer um Rat fragen.«
Er legte das Buch aus der Hand. Wie sie sah, war es ein Band, den er mit seiner Frau am vergangenen Freitag in der Wanderbücherei ausgeliehen
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