Silvy will die Erste sein
Die
geplatzte Party
Nach einem strengen Winter mit
Eis und Schnee war der Frühling vom Süden her in die Stadt gestürmt. Ein warmer
Wind hatte an Fenstern und Türen gerüttelt und den letzten grauen Schneematsch
weggetaut. Er hatte die Wolken vom Himmel vertrieben, der sich jetzt wie eine
blanke blaue Kuppel über den Dächern wölbte. Die Zugvögel waren heimgekehrt und
zwitscherten in den Buchenbäumen hinter der Parkschule, und auf der Wiese, die
allmählich wieder grün zu werden begann, waren die Krokusse, bunt wie
Ostereier, durchgebrochen.
Der Holzstapel, auf dem die
Freundinnen aus der sechsten Klasse früher so gerne gesessen hatten, war längst
abgetragen und verheizt. Aber das war nicht schlimm, denn statt dessen waren
viele nagel-neue, knallgrün glänzende Bänke auf dem ganzen Gelände verteilt
worden, auf denen man die Beine von sich strecken und sich die heiße Frühlingssonne auf die
Nase brennen lassen konnte. Nur die rothaarige Olga Helwig tat das nicht, denn
sie fürchtete die Sommersprossen, die sich allzu rasch auf ihrer zarten weißen
Haut anzusiedeln pflegten; sie lehnte, etwas im Hintergrund, an einem
Baumstamm.
Aber die kleine Ruth, die ihr
schönes blondes Haar jetzt in einer schicken glatten Innenrolle trug, die
spitznasige Silvy, Katrin mit der schwarzen Mähne (und endlich statt der
Skihose wieder in ihren geliebten Blue jeans) und die braunäugige, braunhaarige
Leonore Müller mit dem lustigen Grübchen im Kinn hockten nebeneinander wie die
Spatzen auf einer Stange, und wie die Spatzen schnatterten sie auch
miteinander, während sie Körner pickten oder, richtiger gesagt, in ihre
Schulbrote bissen.
Heute war ein großer Tag, ein
lang und heiß ersehnter Tag: Leonore wurde zwölf Jahre alt.
Das allein wäre natürlich noch
kein Grund zu so viel Aufregung gewesen, aber es hatte mit diesem Geburtstag
noch eine besondere Bewandtnis. Leonore hatte ihren Eltern die Erlaubnis
abgebettelt, eine kleine Party geben zu dürfen, keine gewöhnliche
Geburtstagsfeier mit Verlosung und Blindekuh, sondern eine richtige Party mit
Jungen, bei der auch getanzt werden sollte.
Das war für die Freundinnen
eine Sensation. Zwar waren die Jungen, die ihr Erscheinen zugesagt hatten,
nicht gerade Traumboys, denn woher hätte Leonore die nehmen sollen? Sie hatte
einfach die Jungen eingeladen, die sie kannte, und das waren erst einmal ihre
beiden Zwillingsbrüder Peter und Paul, beide vierzehn Jahre alt, und dann noch
Olgas Brüder Hartmut und Ulrich, fünfzehn und sechzehn Jahre, die versprochen
hatten, einen Schulfreund namens Gerd mitzubringen. So war für jede der
Freundinnen ein Tänzer gesichert, und das war schon viel wert.
„Gestern abend habe ich schon
mit Mutti italienischen Salat und Kanapees gemacht...“, sprudelte Leonore
aufgeregt.
Silvy fiel ihr ins Wort.
„Ich höre immer Sofa! Wieso
hast du für die Party Sofas zurechtgezimmert?“
Katrin lachte so, daß sie fast
von der Bank fiel. „Na so was! Weißt du etwa nicht, was Kanapees sind?“
„Sofas!“ beharrte Silvy.
Die anderen gaben durch
beredtes Schweigen zu verstehen, daß sie es auch nicht besser wußten.
„Kanapees, das sind so eine Art
belegte Brote...“, versuchte Leonore zu erklären.
„Warum nennst du sie dann nicht
so?“ fragte Silvy giftig.
„Weil es eben keine belegten
Brote sind, sondern Kanapees, nicht wahr, Leonore?“ rief Katrin.
„Und wo ist da der
Unterschied?“ ließ sich nun Olga aus dem Hintergrund vernehmen.
„Belegte Brote, das sind
kräftige Dinger, Stullen, in die man hineinbeißen kann“, sagte Katrin, „aber
Kanapees, das sind mehr so kleine Appetithappen, die man mit einem Biß
vertilgt.“
„Ja, das stimmt“, bestätigte
Leonore.
„Gratuliere, Katrin“, sagte
Silvy, „so weise wie du wäre ich auch, wenn meine Großmutter Köchin wäre.“
„Aber Silvy, das gehört doch
nicht hierher!“ mahnte Leonore leise.
Doch Katrin ließ sich nicht so
leicht beleidigen. „Und wenn du platzt!“ rief sie. „Ja, ich weiß das von meiner
Großmutter! Als wir noch bei Weikerts wohnten, hat sie soundso oft Kanapees
bereitet, wenn Gäste kamen, und damit du es nur weißt: ich halte es nicht für
eine Schande, wenn man für fremde Leute kocht. Das ist genauso eine Art, Geld
zu verdienen, wie anderen Leuten Versicherungen anzudrehen...“
Jetzt ging Silvy, deren Vater
Versicherungskaufmann war, in die Luft. „Aber erlaube mal, das ist doch ein
gewaltiger Unterschied!“
„Wenn ihr
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