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Vorsatz und Begierde

Vorsatz und Begierde

Titel: Vorsatz und Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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BBC-Frühnachrichten anhören. Sie konnte aber auch eine ihrer Schlaftabletten nehmen. Diese waren weiß Gott so stark, daß sie im Nu alles vergessen würde. Aber sie wollte von ihnen loskommen, und wenn sie jetzt eine nahm, bedeutete das, daß sie der Alptraum noch immer verfolgte. Nein, sie würde aufstehen und Tee machen. Alex würde schon nicht wach werden. Er schlief tief und fest, selbst wenn draußen ein Wintersturm tobte. Aber zuvor mußte sie noch eine Art kleinen Exorzismus betreiben. Wenn der Traum seine Macht über sie verlieren sollte, wenn sie seine Wiederkehr verhindern wollte, mußte sie sich der Erinnerung an jenen Nachmittag vor knapp dreißig Jahre stellen.
    Es war ein warmer Herbsttag Anfang Oktober gewesen. Sie, Alex und ihr Vater arbeiteten im Garten. Ihr Vater, vom Haus aus nicht zu sehen, lichtete eine dicke Hecke aus Brombeeren und wucherndem Gestrüpp. Er kappte sie mit der Hippe, während Alice und Alex die Ranken und Zweige zum Verbrennen auf einen Haufen zusammentrugen. Obwohl der Vater für die Jahreszeit ohnehin zu leicht bekleidet war, schwitzte er ausgiebig. Sie sah, wie sein Arm hochschnellte, hinabsauste, hörte das Knacken der Zweige, spürte, wie sich ihr Dornen in die Finger bohrten, vernahm seine herrischen Anweisungen. Und dann hörte sie ihn plötzlich aufschreien. Entweder war ein Ast schon morsch gewesen, oder er hatte ihn mit seiner Hippe verfehlt. Die Hippe hatte ihm den nackten Oberschenkel aufgeschlitzt. Sie sah, wie ein Blutstrahl emporschoß und er wie ein verwundetes Tier zusammenbrach. Seine Arme zuckten. Die Hippe glitt ihm aus der Hand, die er ihr zitternd entgegenstreckte. Dabei schaute er sie flehentlich an wie ein Kind. Er versuchte ihr noch etwas zu sagen, aber sie verstand ihn nicht. Sie wollte schon, fasziniert von dem Anblick, zu ihm eilen, als sie jemand am Arm packte. Alex zog sie zu dem Pfad, der zwischen den Lorbeerbüschen zum Obstgarten verlief.
    »Nicht doch, Alex!« schrie sie. »Er blutet ja. Er wird sterben. Wir müssen ihm helfen.«
    Sie wußte nicht mehr, ob sie das tatsächlich geschrien hatte.
    Sie erinnerte sich nur noch an den Druck seiner Hände auf ihren Schultern. Er drängte sie gegen die Rinde eines Apfelbaums und hielt sie da fest. Und er sagte nur ein Wort:
    »Nein.«
    Sie hätte sich, obgleich sie vor Entsetzen zitterte, obgleich ihr das Herz bis zum Hals klopfte, losreißen können, wenn sie nur gewollt hätte. Heute wußte sie, daß es ihm nur auf ihre Hilflosigkeit angekommen war. Er allein bestimmte, was da geschah; sie hatte keine andere Wahl: Sie wurde gezwungen, sie war frei von aller Schuld. Jetzt, dreißig Jahre danach, lag sie wie erstarrt da, die Augen auf den Himmel gerichtet, und hörte wieder dieses einzige Wort, sah seine Augen vor sich, spürte seine Hände auf ihren Schultern, spürte, wie die rauhe Borke sich durch ihre Bluse bohrte. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein. Sie wußte nicht, wie lange er sie so festgehalten hatte.
    Nach einer Weile atmete er tief durch und sagte: »Jetzt können wir gehen.«
    Auch das verblüffte sie – daß er noch so klar denken, daß er abschätzen konnte, wie lange es dauern würde. Er zog sie hinter sich her, bis sie zu der Leiche ihres Vaters gelangten. Als sie den ausgestreckten Arm sah, die starren, offenen Augen, die Blutlache auf der Erde, wußte sie, daß er tot, aus ihrem Leben für immer verschwunden war, daß sie von ihm nichts mehr zu befürchten hatte. Alex schaute sie an und begann laut auf sie einzureden, als wäre sie ein unverständiges Kind. »Was auch immer er dir angetan hat, er wird es nicht mehr wieder tun. Nie mehr. Hör mir genau zu! Ich sage dir, was geschehen ist. Wir haben ihn allein gelassen und sind auf den Apfelbaum geklettert. Dann sind wir zurückgekehrt und haben ihn gefunden. So einfach ist es. Mehr brauchst du nicht zu sagen. Überlasse das Reden mir. Sieh mich an, Alice! Hast du mich verstanden?«
    Als sie ihre Stimme wiederfand, klang sie brüchig, zitternd wie die einer alten Frau.
    »Ja, ich habe dich verstanden.«
    Er packte sie bei der Hand, zerrte sie über den Rasen, rannte durch die Küchentür und stieß einen Schrei aus, der beinahe triumphierend klang. Ihre Mutter wurde bleich, als würde sie gleichfalls verbluten.
    »Vater hat sich verletzt!« stieß Alex keuchend hervor. »Er braucht einen Arzt.«
    Und dann blieb Alice allein in der Küche zurück. Es fröstelte sie. Die Fliesen unter ihren Füßen fühlten sich eisig an. Die

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