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Vorsatz und Begierde

Vorsatz und Begierde

Titel: Vorsatz und Begierde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. D. James
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daß man sie nach der Abendschicht heimbegleitet. Alice hat mir anvertraut, daß es für Alex nicht leicht ist, das zu organisieren. Die Frauen sind nur dann mit einem Begleiter einverstanden, wenn er zumindest für einen der Morde ein unerschütterliches Alibi hat. Eine Frau reagiert in so einem Fall nicht mehr rational, auch wenn sie einen Mann schon seit Jahren kennt, mit ihm seit langem zusammenarbeitet.«
    »Das ist eine normale Reaktion bei einem Mord«, sagte Dalgliesh. »Vor allem bei so einem Mord. Miles Lessingham hat einen gewissen Toby erwähnt, der gleichfalls umgekommen ist. War das der junge Mann, der sich im AKW umgebracht hat? Ich habe darüber in den Zeitungen gelesen.«
    »Es war eine schreckliche Tragödie. Toby Gledhill war einer der begabtesten Wissenschaftler, die Alex hatte. Er stürzte sich auf die Reaktorkuppel und brach sich das Genick.«
    »An dem Fall ist also nichts Rätselhaftes?«
    »Aber nein, überhaupt nichts! Nur sein Motiv. Mr. Lessingham war Zeuge des Vorfalls. Es überrascht mich, daß Sie davon wissen. Die Presse hat nicht viel darüber berichtet. Alex hat versucht, die Publicity so gering wie möglich zu halten, um die Eltern zu schonen.«
    Und sein AKW, dachte Dalgliesh. Er überlegte, warum wohl Lessingham Toby Gledhills Tod als Mord hingestellt hatte. Aber er wollte seine Begleiterin nicht befragen. Die Vermutung war so leise geäußert worden, daß sie die Worte vielleicht nicht gehört hatte.
    »Leben Sie gern auf der Landzunge?« erkundigte er sich statt dessen.
    Die Frage verblüffte ihn mehr als sie. Auch die Tatsache, daß sie, als wären sie alte Bekannte, miteinander spazierengingen, erstaunte ihn. Er fühlte sich wohl in ihrer Gesellschaft. Er mochte ihre unaufdringliche Freundlichkeit, der man jedoch auch eine beträchtliche innere Kraft anmerkte. Auch ihre Stimme war angenehm, und das Timbre einer Stimme war ihm von jeher wichtig gewesen. Noch vor einem halben Jahr hätte ihm das jedoch nicht genügt, um ihre Gesellschaft länger, als es die Höflichkeit erforderte, zu ertragen. Er hätte sie zum Alten Pfarrhof heimbegleitet und wäre dann, nachdem er diese kleine gesellschaftliche Verpflichtung erfüllt hatte, erleichtert und allein, in sich selbst versunken wie in einen schützenden Umhang, zu der Abtei geschlendert. Das Alleinsein war ihm noch immer wichtig. Er ertrug nur schwer einen Tag, an dem er nicht eine gewisse Zeit für sich selbst beanspruchen konnte. Aber irgendeine Veränderung in ihm, die unerbittlich verfliegenden Jahre vielleicht, sein Erfolg, die positiven Reaktionen auf seine Gedichte, möglicherweise das sich zögernd einstellende Gefühl von Liebe, machten ihn seit neuestem geselliger. Er wußte nur noch nicht, ob er das begrüßen oder ihm widerstehen sollte.
    Er bemerkte, daß sie über seine Frage ernsthaft nachdachte. »Doch, ich denke schon«, antwortete sie. »Manchmal fühle ich mich rundum glücklich. Ich kam hierher, um den Problemen, die ich in London hatte, zu entkommen. Und dabei bin ich, ohne daß es mir bewußt war, so weit wie möglich nach Osten geflüchtet.«
    »Und dann stellten Sie fest, daß Sie sich mit zwei weiteren Bedrohungen auseinandersetzen müssen – mit dem AKW und dem Whistler.«
    »Ja, beide ängstigen mich, weil sie so rätselhaft sind. Das Unbekannte macht nun mal angst. Doch die Bedrohung ist nicht persönlich, nicht gegen mich gerichtet. Aber geflohen bin ich, und wie alle Geflüchteten bedrückt mich ein Gefühl von Schuld. Die Kinder fehlen mir. Vielleicht hätte ich dableiben und weiterkämpfen sollen. Aber es weitete sich immer mehr zu einer öffentlichen Auseinandersetzung aus. Und für die Rolle einer Vorkämpferin – so sah mich die eher reaktionäre Presse – bin ich nicht geschaffen. Ich wollte nur, daß man mich endlich in Ruhe ließ, damit ich den Beruf ausüben konnte, für den ich ausgebildet war, den ich liebte. Aber jedes Buch, das ich im Unterricht verwendete, jedes Wort, das ich äußerte, wurde auf die Goldwaage gelegt. Man kann nicht in einer Atmosphäre von Mißtrauen und Argwohn unterrichten. Damit konnte ich mich nicht abfinden.« Sie schien es als selbstverständlich anzusehen, daß er wußte, wer sie war. Und wer Zeitungen las, wußte es auch.
    »Man kann gegen Intoleranz ankämpfen«, sagte er, »gegen Dummheit, gegen Fanatismus, wenn sie einzeln auftreten. Treffen sie zusammen, ist es vermutlich klüger, vor ihnen zu flüchten, damit man sich nicht an ihnen aufreibt.«
    Sie

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