Vorzeitsaga 03 - Das Volk der Erde
durch den bösartigen grünen Nebel. Und wenn ich mich verliere? Wenn ich der Verlockung des Großen Einen nicht widerstehen kann?
Stilles Wassers Gesang, der zunächst wie aus weiter Ferne an ihr Ohr klang, wurde lauter, ganz so, als knie er neben ihr nieder. Das Wolfsbündel zerrte an ihrer Seele und kämpfte darum, sie in den Strudel seiner Macht hinunterzuziehen.
Nervös abwartend hielt sich Bleicher Rabe im Hintergrund, sie starrte in den dunklen Schleier, den die Nacht über die Wüste gebreitet hatte. Blaue Schatten klammerten sich an die Dünen, verliehen ihnen das Aussehen zusammengekauerter, sprungbereiter Tiere. Plötzlich fühlte sie eine Veränderung in der Luft und taumelte.
Entsetzt warf sie einen Blick auf Fliegender Falke, den der Krieger mit weit aufgerissenen Augen erwiderte. Sie trat zu ihm und flüsterte: »Ist alles in Ordnung?«
Zwischen zusammengepreßten Lippen stieß er hervor: »Du brauchst nur in das Licht des Feuers zu treten und die Arme zu heben.«
Im selben Moment schrie Tapferer Mann auf und preßte die Hände gegen seine Schläfen. Er torkelte seitwärts, verlor wegen seines steifen Beines das Gleichgewicht und wälzte sich auf dem Boden. Nach einer Weile setzte er sich auf, seine verzerrte Miene zeigte höchste Qual.
Die Krieger eilten auf ihn zu.
»Bleibt, wo ihr seid!« befahl Bleicher Rabe. »Überlaßt das Kämpfen dem Seelenflieger.« Unser Kampf kommt noch!
Keuchend sog Tapferer Mann die Luft ein. In diesem Moment wurden Weiße Esches Augen vollkommen klar. Mit schwachen Händen griff sie nach dem Wolfsbündel und drückte es an ihre Brust.
Bleicher Rabe trat einen Schritt vor. Im Feuerschein betrachtete sie die Gesichter ihrer Feinde. Die Männer schienen von Ehrfurcht ergriffen, die zierliche Schwarzspitzen-Frau dagegen sah sich wachsam um, als würden unsichtbare Fledermäuse um ihren Kopf flattern. Sie nestelte an ihren Speeren, verlor aber nicht den Kopf. Eine hellwache Frau. Sie gehörte zu den gefährlichen Feinden.
Weiße Esche sank auf die Knie, beugte sich vor und küßte das Wolfsbündel wie einen Geliebten. Die schwarzen Haare spielten um ihr Gesicht.
»Träume!« rief der junge Schwarzspitzen-Krieger und ballte die Hände zu Fäusten. »Träume den neuen Weg, Weiße Esche!«
Aus den Augenwinkeln beobachtete Bleicher Rabe Fliegender Falke, dann blickte sie wieder hinaus in die nächtlichen Schatten zwischen den Dünen. Sie kniff die Augen zusammen. Tapferer Mann würde siegen irgendwie.
Als Weiße Esche das Wolfsbündel schützend an ihr Herz drückte, verebbte Stilles Wassers Gesang, das strahlende Gelb seiner Seele verblaßte. Sie überließ sich der Macht des heiligen Bündels. … Und die Welt wurde still. Ein leuchtender goldener Dunst schwebte um sie wie Schnee an einem kristallklaren Wintermorgen.
Jetzt, Mutter des Volkes«, sagte das Wolfsbündel in einer harmonischen Stimme, »gebrauche unsere vereinten Kräfte.«
Sie öffnete ihre Seele, ließ sich von der Macht des Wolfsbündels emportragen, erlag seiner Stärke.
Von irgendwo weit her hörte sie Tapferer Manns Schrei, sie fühlte das von allen Seiten widerhallende Echo der Stimmen in seinem Kopf, die vor Entsetzen aufheulten.
Sie stand am Rande des goldenen Abgrunds.
»Überschreite die Schwelle«, drängte das Wolfsbündel. »Liefere dich dem Großen Einen aus.
Tapferer Mann ist nur verwirrt. Er sammelt neue Kräfte, um…«
Blitzende Lichter flackerten und schlugen sie zurück. Sie kauerte sich zusammen, wie betäubt von einer unheimlich grünen Helligkeit, die sich um sie auszubreiten begann.
»Laß dich gehen!« befahl das Wolfsbündel. »Überschreite die Schwelle! Das ist deine einzige Hoffnung…«
Sie rief sich Stilles Wassers freundliches Gesicht in Erinnerung, spürte seine liebevolle Berührung und fühlte das in ihrem Leib wachsende Kind. Wenn sie dem Großen Einen nicht widerstehen konnte, mußte das Kind sterben. Schluchzend beugte sich Weiße Esche über den Abgrund, weiter und weiter, bis sie stürzte. Sie schwebte durch den goldenen Dunst, fühlte die Ekstase des Großen Einen, wurde eins mit der Spirale.
»Wo bist du?« rief Tapferer Mann zornig. Seine Stimme schien durch Wellen silbernen Wassers auf sie zuzuschwimmen.
»Hier«, antwortete sie. »Ich bin hier.« Sie sehnte sich so sehr danach, ihre Seele endlich zu befreien, sie gestaltlos in die Seligkeit sickern zu lassen. Singende Steine hat sich dem Großen Einen hingegeben.
Seine Seele war damit
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