Walkueren
keine sichtbaren Verletzungen. Ein typischer Selbstmord.
»Die Menschheit besteht aus zwei Gruppen«, sagte Terje, »Lebende und Tote. Keine Frage, zu welcher Gruppe die Frau gehören wollte. Da müssen wir uns nicht lange mit rumschlagen. Fehlt nur noch der Abschiedsbrief. Vielleicht hat sie ihn in ihrer Wohnung hinterlassen, wo auch immer die ist. Das Kennzeichen wird gerade bei der Kfz-Meldestelle überprüft.«
Guðrún dokumentierte den Tatort, zuerst auf Film, dann machte sie ein paar Fotos.
»Hier ist ihre Adresse«, sagte sie. »Der TÜV-Bericht war im Handschuhfach, und hier ist der Führerschein. Sie wohnte in Álfheimar. Freyja Hilmarsdóttir. Geboren 1955.«
»Wechseljahre«, erklärte Terje. »Ich hab doch gesagt, da muss man vorsichtig sein.«
Manchmal war Guðrún – wie viele andere auch – empört über Terjes Art, aber meistens tat sie ihm nicht den Gefallen, daran Anstoß zu nehmen, denn genau darauf wollte er hinaus. Obwohl sie nichts sagte, sah Terje ihr an, dass sie verstimmt war.
»Entschuldige«, sagte er. »Was soll man denn schon sagen, wenn man einen Menschen im besten Alter sieht, der resigniert hat?«
»Muss man denn immer etwas sagen?«
»Kommt drauf an, zu welchem Teil der Menschheit man gehört«, entgegnete Terje. »Zu denen, die laut denken, oder zu den anderen.«
»Wird es dir eigentlich nie langweilig, immer den gleichen Witz zu erzählen?«
»Doch, schon«, sagte Terje, »aber man tut, was man kann. In unserem Job gibt’s nicht viel zu lachen. Müssen wir hier noch irgendwas tun? Sollen wir bei dieser Adresse in Álfheimar, der Elfenwelt, vorbeischauen? Ich will nur hoffen, dass da nicht eine ganze Schar Kinder auf sie wartet.«
»Da besteht keine Gefahr«, sagte Guðrún. »Die Frau hatte keine Kinder.«
»Woher weißt du das?«, fragte Terje. »Steht das auch im TÜV-Bericht?«
»Willst du damit sagen, dass du nicht weißt, wer diese Frau ist?«, fragte Guðrún. »Sie war Redakteurin und Journalistin und Schriftstellerin und saß für die Frauenpartei im Parlament, als Ersatzabgeordnete.«
»Ich gehöre zu denjenigen, die nur den Sportteil lesen«, sagte Terje.
Ein Abschleppwagen der Firma Vaka sowie ein schwarzer Transporter der Städtischen Friedhöfe Reykjavík hatten sich zu dem Fuhrpark in Rauðhólar gesellt. Die Friedhofsarbeiter legten die Leiche auf eine Bahre, und der Fahrer, an dessen Namen sich Guðrún nicht erinnern konnte, breitete ein Laken und eine Decke darüber. Er nahm eine ordentliche Prise Schnupftabak und gab seinem Kollegen dann ein Zeichen. Routiniert hoben sie die Bahre hoch und trugen sie zu dem schwarzen Transporter, während der Fahrer des Abschleppwagens den Skoda vorne anhob und auflud.
Terje starrte den Mann mit dem Schnupftabak an. Er dachte, den Leuten, die sich um Leichentransporte kümmerten, stünde es wohl zu, sich ab und zu eine ordentliche Prise zu genehmigen.
Þorleifur, der Reiter, blieb zurück und setzte seinen Helm ab, als die Autos an ihm vorbeifuhren. Obwohl es sich nicht direkt um einen Trauerzug handelte, hielt er das für angemessen.
»Also dann, Mói«, sagte er, als er wieder aufs Pferd stieg. »Man kann wohl kaum von dir erwarten, dass du die Menschen verstehst.«
4
Mörder oder Opfer?
Sveinbjörn Ragnarsson heulte lauthals, Schleim rann ihm aus der Nase, er schnäuzte sich in die Hand und wischte sie an seinem Hosenbein ab. Dann legte er die Innenflä chen seiner Hände gegeneinander, sodass die Handschellen nicht in die Handgelenke einschnitten, und versuchte, sich die Tränen mit dem Jackenärmel aus dem Gesicht zu wischen.
Randver Andrésson, Assistent des Hauptkommissars der Kripo Reykjavík, konnte sich nicht erinnern, während seiner Laufbahn schon einmal einen derartigen Tränenausbruch gesehen zu haben. Obwohl er schon vielen Menschen in schwierigen Situationen begegnet war.
»Ich habe das Recht, mit einem Arzt zu sprechen«, schluchzte der Mann. »Ihr dürft mich nicht länger quälen. Ihr seht doch, dass ich krank bin.«
Acht Kriminalpolizisten standen im Halbkreis um den Mann herum, der tränenüberströmt auf einer halbzerfallenen Steinmauer an der Anhöhe Öskjuhlíð saß. Dagný Axelsdóttir war die einzige Frau in der Gruppe.
»Wer hat dich denn gequält?«, fragte Randver.
»Alle quälen mich«, sagte der Mann und blickte vorwurfsvoll in die Runde. »Ich stehe unter Schock. Seht ihr das denn nicht? Das ist doch Folter, einen Mann, der gerade seine Frau verloren hat,
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