Wanja und die wilden Hunde
Theorie-Russisch an der Volkshochschule, Theorie-Intensivkurs in einer Sprachenschule oder Praxis-Russisch in Russland.
Eine Woche später ging ich nach Russland.
Der Mann, der mir das Buch einst schenkte, hatte mir den Kontakt zu seinen besten Freunden in Moskau gegeben. Diese besorgten mir eine Neubauwohnung zur Miete (in Dollar) am Prjeobrazhenskaja plostshad’ . Wie ich später erfuhr, heißt dies übersetzt »Platz der Verklärung«. Ich bin noch heute erstaunt, wie gut mein damaliger Zustand zum Namen dieses Ortes passte. So blickte ich nach meiner Ankunft im Winter 1990 auf einen tiefverschneiten Platz vor meinem Fenster im zwölften Stock und sah Kindern beim Rodeln von einem kleinen Hügel zu. Mich durchfuhr ein seltsam erregendes Gefühl des Fremdseins. Vielleicht fühlen Kinder so, wenn ihnen die Bezeichnung für etwas noch fehlt.
Stellen Sie sich vor, Sie sehen einen Gegenstand, können ihn aber nicht benennen. Sie werden ihn genau betrachten. Seine Farbe. Seine Form. Sein Material. Seine Besonderheit. Sobald Sie aber seinen Namen und seine Funktion erfahren, ist dieser unverbrauchte Blick verschwunden.
Da auch mir die russischen Begriffe für »Kinder«, »Schnee«, »Straße«, »Bäume«, »Hügel«, »Schlitten«, »Freudenschreie« fehlten, hatte ich das Gefühl, etwas ganz Neues zu erleben.
Ich traf Vera wieder, die Künstlerin, auf deren Konzert ich in Berlin gewesen war. Sie sollte in Russland der wichtigste Mensch für mich werden. Nach kurzer Zeit stellte Vera mich ihrer Freundin Elena (Lena) Kamburowa vor, der damals beliebtesten Sängerin Russlands. Lena wiederum war befreundet mit Bulat Okudschawa (gest. 1997), zu diesem Zeitpunkt der bekannteste Liedermacher Russlands. Über diese Künstler – Vera, Lena und Bulat – fand ich nun schnell Zugang zur Bühne.
Sie unterstützten meine ersten Vertonungen der Originalgedichte Zwetajewas. Ein Dolmetscher übersetzte sie mir nicht nur Wort für Wort, sondern klärte mich auch über die poetische Bedeutung der Begriffe auf, die im Russischen häufig eine andere ist als im Deutschen. So verwendet Zwetajewa das Wort Schnee sehr oft, um Unberührtheit oder einen Neuanfang zu kennzeichnen, während es im Deutschen eher mit (Gefühls-)Kälte assoziiert wird.
Ich begann, Zwetajewas Poesie in Musik zu kleiden wie eine Architektin, die Statik, Schönheit, Verwendung, Zusammenhänge und Lebensgefühl vereinen muss. Zwetajewa war selbst bereits eine Musikerin mit Worten gewesen. Der Klang ihrer Gedichte ist so selbstverständlich vorgegeben, dass ich die Harmonien auf der Gitarre und meinen Gesang nur noch darüberlegen musste wie einen Mantel.
In ihrem Gedicht » Rasluka « (»Abschied«) zum Beispiel, in dem der Abschied wie eine Person vor ihr auftaucht, beginnt sie mit langsamen, ruhigen Versen und Tönen. Von Strophe zu Strophe schleichen sich kürzere, dumpfere, schärfere Laute ein, zum Schluss eskaliert das Ganze in einem Dauerzischen von Worten und geht in einem Schluchzen unter, als Zwetajewa begreift, dass dieser Abschied nicht vor ihr steht, sondern in ihr selbst ist. Der Begriff Rasluka hämmert zwischen den Worten einen Rhythmus, der sich immer mehr verdichtet. Dieses Gedicht lässt mir bis heute das Mark gefrieren und das Herz brennen.
Ich begann auch, Zwetajewas Leben zu studieren. Ich reiste an Orte, an denen sie einmal gewohnt hatte, besuchte immer wieder das Zwetajewa-Museum in Moskau und verschlang Literatur über sie.
Vor meinem ersten Konzert in Russland hatte ich einen Traum: Während ich singe, entdecke ich plötzlich Zwetajewa mit verschränkten Armen im Publikum. Ich starre sie an wie das Kaninchen die Schlange und rechne mit dem Schlimmsten. Zwetajewa senkt mit sehr ernstem Blick den Kopf und nickt dreimal bedächtig. Ihre Arme bleiben dabei verschränkt.
Ich erzählte Vera von dem Traum. Sie schlug mir mit der Hand begeistert auf die Schulter und rief: »Wenn Zwetajewa genickt hat, dann wird dein Konzert gut.«
Obwohl ich eine ungläubige Ostdeutsche war, sollte sie recht behalten. Die russischen Konzertbesucher billigten meine Form, mit ihrer Dichterin umzugehen. Von nun an gab ich Konzerte in Russland. Zwischendurch bat Vera mich regelmäßig, doch einmal mit ihr in ein Dorf zu kommen, das nach ihren Worten ihr »Wunschzuhause« darstellte. Sie hatte auf abenteuerlichen Wegen dorthin gefunden und drei Jahre zuvor ein Haus in dem Dorf gekauft. »Meine Familie lebt dort«, sagte sie vorwurfsvoll, als ich wieder einmal
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