Wanja und die wilden Hunde
Tamaras Büro Tee trinkt, als ich auftauche. An diesem Tag jedoch ist es ein Mann, der Juri heißt und in einem blauen Overall den Raum betritt. Er spricht die erlösenden Worte: »Mädels, los geht’s.«
Wir steigen in einen alten Jeep. Juri schließt die Beifahrertür von außen und biegt ein Stück Draht davor, damit sie nicht wieder aufspringt.
Los geht’s. Über das Schlaglochpflaster der Stadt und durch Dörfer, die immer weniger besiedelt scheinen. Zwischen den Ortschaften fährt Juri in der Mitte der schmalen Landstraße, was mich besonders dann ängstigt, wenn uns ein anderes Auto ebenfalls mittig entgegenkommt. Im letzten Moment weichen die Autos sich schließlich doch noch aus, nur um unmittelbar danach wieder zur Straßenmitte zu wechseln. »Der Straßenbelag ist nur in der Mitte gut«, deute ich Veras wortreiche Erklärung auf meine entsetzten Blicke.
Eine Stunde später und vielleicht fünfzig Kilometer weiter biegt Juri auf einen Feldweg ab, dem wir jetzt holpernd über einige Kilometer folgen. Dann hält er an.
Vor uns liegt ein breiter Fluss. Juri lädt unser Gepäck ab und Vera sagt: » Wsjo .« (»Das war’s.«) Nachdem wir Juri bezahlt haben und er losgefahren ist, blicke ich mich um. Felder und Heidelandschaft soweit das Auge reicht. Vor uns der Fluss, dahinter wieder Heide.
Ich habe nur kurz Zeit zur Muße, denn mit den riesigen Mückenschwärmen, die sich auf uns stürzen, seit wir das Auto verlassen haben, habe ich so nicht gerechnet. Ich schlage um mich, auf mich und schreie: »Weg da, lasst das!«
Vera grinst. Ich bin wütend. Schließlich hätte sie mich vorher informieren können, dass es sich hier um ein Mückenparadies handelt. Dann hätte ich während meines letzten Besuches in Deutschland Mückenspray gekauft.
Nach dem hysterischen Anfall fällt mir auf, dass weit und breit kein Dorf zu sehen ist. Kein Haus, kein Mensch, nur Landschaft. Mein Stresspegel steigt bei dieser Entdeckung erneut.
Vera deutet auf meine Rucksackkugel: » Pozhaluista, dai. « (»Bitte, gib her.«)
Ich traue meinen Augen kaum, als sie ein Gummiding daraus hervorzieht, und hege sofort einen Verdacht, der mir die Knie weich werden lässt.
Der Verdacht bestätigt sich. Ein Schlauchboot liegt vor mir.
» Scho takoje « (»Was soll das?«), frage ich.
» Nu, tscherez reku « (»Na, über den Fluss«), erwidert Vera erstaunt und deutet auf die gegenüberliegende Seite. An ihrem Blick erkenne ich, dass sie der Ansicht ist, mich bestens informiert zu haben – was sie sicher auch tat, denn das Wort Reka (Fluss) fiel während ihrer Wegbeschreibungen sehr häufig. » Za rekoi derewnja « (»hinter dem Fluss Dorf«), sagt sie in meinem eigenen Kinderrussisch, damit ich es besser verstehe.
Ich fasse es nicht.
Unter Heerscharen von Mücken blasen wir zu zweit das Schlauchboot auf. Eine Aufblashilfe, die man mit dem Fuß bedienen kann, befindet sich nicht in Veras Besitz. Wir pusten und müssen danach immer wieder nach Luft ringen, weil uns schwindlig wird. Ich habe aufgehört, mich gegen die Mücken zu wehren. Da mein gesamter Körper vor Stichen brennt, spüre ich die neu Hinzukommenden kaum noch.
Nachdem das Schlauchboot halb aufgeblasen ist, stecke ich den Stöpsel in mein Ventil und sage: »Das reicht.«
Vera drückt versuchsweise in den noch weichen Rand und schüttelt, weiter blasend, den Kopf.
»Wir können doch hinüberschwimmen«, sage ich. »Und nur das Gepäck transportieren. Dazu reicht der Luftdruck.« (Vermutlich klingt es in meinem Russisch eher wie: »Wir schwimmen. Nur Gepäck auf, reicht.«)
»Aber so habe ich das noch nie gemacht«, antwortet Vera. Tatsächlich lässt sie sich jedoch schnell von meiner Idee begeistern, da auch sie mittlerweile völlig zerstochen ist.
Wir lassen das Schlauchboot zu Wasser, legen das Gepäck hinein, ziehen uns blitzschnell nackt aus und stürzen uns in die Fluten, um uns vor den Mücken in Sicherheit zu bringen. In der Hitze des Sommertages ist die Kühle des Wassers herrlich und Balsam für das Jucken der Mückenstiche. Wir stoßen das Schlauchboot vor uns her und werden von der starken Strömung abgetrieben, während wir versuchen, geradeaus zu schwimmen.
Meine Nerven beruhigen sich. Ich fühle mich unter dieser neuen Herausforderung plötzlich hellwach und in Stimmung für weitere Abenteuer. Ich lache Vera gut gelaunt an und sie lacht ebenfalls – überrascht von meinem Stimmungswechsel.
Am anderen Ufer schlüpfen wir flink und nass in unsere
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