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Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)

Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)

Titel: Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz Aly
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knauserigen Christenmänner, die kurz und günstig bevorzugen und von ausführlichen, höher zu dotierenden Genüssen nichts wissen wollen. Die üppige Juno mit der verrauchten Stimme findet an Baron Stummerl vom Auswärtigen Amt wenig, viel an Herschmann von der Anglobank: »Seither flieg’ ich nur auf die Israeliten!«
    Schneller als geplant verlassen die Evakuierungszüge die Bahnhöfe. Gelegentlich kommt es zu unschönen Mitleidsausbrüchen Neugieriger. Schwertfeger reagiert mit Bedacht und ordnet an: »Die Abfahrt der Züge tunlichst nur zur Nachtzeit« und von »den außerhalb gelegenen Rangierbahnhöfen« vorzunehmen. Nachdem die Deportationen ins Unsichtbare verschoben sind, freuen sich die arischen Österreicher umso ausgelassener. Vom Exodus der Juden erwarten sie die »Verbilligung der Lebensmittel und gleichmäßigere Verbreitung des Wohlstandes«. Wilhelm Habietnik, einst erster Verkäufer in der Damenabteilung des prunkvollen Modehauses Zwieback in der Kärntner Straße, bringt das Geschäft »mit Hilfe der Mittelbank deutscher Sparkassen« an sich. Ähnliches geschieht allerorten.
    Die Männer und Frauen aus den unteren Volksklassen runzeln gelegentlich die Stirn. Doch spülen sie ihre Bedenken mit Alkohol weg. Die Aussicht auf erkleckliche Vorteile bewirkt ein Übriges. »Auch innerhalb der sozialdemokratisch organisierten Arbeiterschaft ist die Befriedigung über den Fortzug der Juden groß. Zur Gehobenheit der Stimmung trägt wesentlich der Umstand bei, dass die Wohnungsnot mit einem Schlage aufgehört hat. Allein in Wien sind seit Beginn des Monats Juli vierzigtausend Wohnungen, die bisher Juden innehatten, frei geworden.« [284]
    All das wurde 16 Jahre später Wirklichkeit – und Schlimmeres: die Definition des Juden und jüdischer Mischlinge, die Formen der Enteignung, der Nutzen für die Wohnungssuchenden, die neuen Pfründe für die schwerfälligen, unlesbare Schwarten absondernden Historienschreiber und schließlich die Ausnahmslosigkeit, mit der die Deportationen durchgeführt wurden. Hitler ließ die 40 000 Wiener Wohnungen räumen, die Juden gemietet oder besessen hatten. Deutsche und österreichische Beamte enteigneten die Juden unter allgemeinem Beifall, verjagten sie ins Ausland und transportierten die Verbliebenen per Eisenbahn nach Osten ab. Um das Gewissen der Wiener zu schonen, fuhren die Deportationszüge nächtens von der Postrampe des abseits gelegenen Aspangbahnhofs ab. Insgesamt mussten auf diesem Weg 48 593 Menschen Wien verlassen. Von ihnen überlebten 2098.
    Hugo Bettauer, der Autor des Romans »von übermorgen« hatte den großdeutschen Antisemiten aufs Maul geschaut. Sein Thema lag in der Luft. 1925 ging ein Wiener Zahntechniker auf ihn los, schoss und traf ihn tödlich. Das Gericht stufte den Mörder als Einzeltäter ein, erklärte ihn für psychisch krank, ließ ihn in die Irrenanstalt schaffen und 14 Monate später auf freien Fuß setzen. Vor der Tat hatte der Angeklagte eine Zeit lang der NSDAP angehört. Im Prozess übernahm ein braunes Anwaltskollektiv seine Verteidigung, ein Solidaritätskomitee für politische Gefangene unterstützte ihn moralisch und materiell.

    Bereits 1900 hatte Siegfried Lichtenstaedter die Kunst der politischen Prognose verfeinert. Er nannte sie Geschichtsvorhersage oder Zukunftsgeschichtsschreibung. Die Umstände seiner jüdischen Existenz schärften ihm den Blick für die Doppelbödigkeit des christlichen Humanismus. Er durchschaute nationalistische Überheblichkeit und moralisch bemäntelte imperiale Interessenpolitik. Natürlich irrte sich Lichtenstaedter in manchen Details, aber die großen Linien erkannte er dank seiner Fähigkeit, kaum sichtbare Vorzeichen wahrzunehmen und mit unverbesserlichem Pessimismus in die Zukunft zu projizieren.
    Er hatte in Erlangen und Leipzig orientalische Sprachen und Jura studiert. Womöglich wollte er eine akademische Karriere einschlagen, auch liebäugelte er damit, eine passende Stellung in der Türkei zu finden. All das misslang. 1898 trat er in den Höheren Dienst der bayerischen Finanzverwaltung ein und wurde Königlicher Regierungsrat, später Oberregierungsrat. Sein Leben erinnert in mancher Hinsicht an das von Franz Kafka. Lichtenstaedter blieb unverheiratet, ging tagsüber einem unauffälligen Brotberuf nach, nachts schrieb er zeitdiagnostische und prognostische Stücke über die bedrohlichen Züge seiner Gegenwart. Zumeist publizierte er unter dem Pseudonym Dr. Mehemed Emin Efendi, manchmal als

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