Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)
Bemerkungen zur Arbeitsweise
Den größten Teil dieses Buches schrieb ich während mehrerer Forschungsaufenthalte in Jerusalem, und zwar in der Bibliothek der Gedenkstätte Yad Vashem. Nirgendwo sonst stehen die einschlägigen Bücher so zahlreich beieinander. Das Katalogprogramm ist superb. Die Such- und Kombinationsmöglichkeiten übertreffen die der Berliner Bibliotheken bei weitem. Regelmäßig saß Michal in der Bibliothek. Sie wurde 1921 in Tübingen als Liselotte geboren. 1935 wanderte sie mit der Jugendaliah nach Palästina aus. Ihre Eltern starben in Auschwitz. Mit der Lupe in der Hand schreibt sie Inhaltsangaben deutscher Dokumente auf Hebräisch für die Archivverzeichnisse. Michal spricht gepflegtes Schwäbisch. Eines Morgens reicht sie mir ein Dokument. Es handelt von »Wachtmeister X«, einem Angehörigen der Waffen-SS. Er hatte – 1943 in Grodno – »einem Befehl zur Erschießung von Nichtariern und Häftlingen« nicht Folge leisten wollen und sich mit seiner Dienstpistole erschossen. Jahrelang erhielt die hinterbliebene Ehefrau deshalb keine Witwenrente. [14] »Es ist das erste Mal, dass ich so etwas lese«, sagt Michal.
Anregend wirkte auf mich auch die gelegentlich massive Unruhe im Lesesaal von Yad Vashem. Plötzlich brechen dort Gruppen von Schülern und Lehrern herein und beginnen zu arbeiten, zu diskutieren und zu suchen. Vor allem verursachen schwerhörige ältere Besucher Krach und Aufregung. Satzfetzen und Ortsnamen fliegen durch den Raum: Pinsk, Auschwitz, Będzin, Ghetto, 1943, Kaufering, Dachau; that’s my father! No, that’s my brother Chaim, he perished; DP camp Föhrenwald; Bahnhofstraße 5, Lager Mühlenberg; Samuel Gleitman, that’s my mother’s side … Eine ältere Dame sucht für eine noch ältere nach Daten im Register der Ermordeten. Es enthält mittlerweile vier Millionen genaue Personenangaben. Plötzlich ruft sie durch den Lesesaal: »Lilly, komm her, hier findest du deine Leute!« Die Entflohenen und Überlebenden kommen fast jeden Tag aus vielen Ländern. Sie suchen nach Dokumenten über ihren eigenen Leidensweg und nach Spuren, die wenigstens etwas vom Schicksal ihrer ermordeten Geschwister, Großeltern oder Tanten mitteilen. Sie wollen die Todesdaten und -orte von Verschollenen wissen, finden sie oft und sagen dann leise: »Nun können wir das Kaddisch beten.«
Das Wort Holocaust verbirgt, was Deutsche anrichteten. Sie trieben die Juden Europas, deren sie habhaft werden konnten, in Judenhäuser, Lager und Ghettos. Hunderttausende verhungerten dort, erlagen Kälte und Krankheiten. Die anderen deportierten die Deutschen und ihre Helfer – zu Fuß, auf Lastwagen oder in Zügen. Am Zielort warteten Erschießungs- oder Gaskammerkommandos. Einige der Todgeweihten hatten die Massengräber auszuschachten, die Krematorien zu befeuern und zu füllen.
Manchmal, gegen Kriegsende häufiger, sortierten deutsche SS-Männer, Beamte der Arbeitsverwaltung und Ärzte die Kräftigen unter den Deportierten zur Arbeit aus. So überlebten mehrere Zehntausend die Zeit des Schreckens. Hunderttausende Juden, die unter deutsche Herrschaft gerieten, konnten untertauchen, in letzter Minute fliehen oder wurden von den Verantwortlichen ihrer Heimatstaaten nicht an die Deutschen ausgeliefert. Letzteres gelang insbesondere in den Staaten, in denen der deutsche Zugriff aus unterschiedlichen Gründen sofort oder nach einiger Zeit gehemmt werden konnte: in Dänemark, Frankreich, Ungarn, Rumänien, Belgien, Italien und Bulgarien. Doch ermordeten die Deutschen innerhalb von nur drei Jahren 82 Prozent der jüdischen Bevölkerung ihres Herrschaftsraums. Insgesamt sechs Millionen Menschen. [15]
Im Herbst 1932 ahnte der wortgewandte Königsberger Zionist Kurt Blumenfeld das Kommende klarer als die meisten seiner Zeitgenossen; ich werde im Schlusskapitel darauf zurückkommen. Später machte Blumenfeld die gewalttätige Trostlosigkeit des Mordes an den europäischen Juden sprachlos. Er wusste viel über die Jahre der Verzweiflung, viel von den seelischen Wunden der Überlebenden; doch als er im Jahr 1961 seine Lebenserinnerungen niederschrieb, beendete er sie abrupt mit dem 28. Februar 1933, dem Tag seiner Abreise aus Deutschland nach Palästina. Damals hatte eine »neue Wirklichkeit begonnen«, so begründete er sein Schweigen. »Seit jenen Tagen sind über 28 Jahre vergangen. Seit 28 Jahren versuche ich, das Unsagbare zu sagen. Es zeigte sich, dass die Phantasie der Menschen niemals so groß ist wie
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