Was der Winter verschwieg (German Edition)
Fenster. Ein Tropfen Wasser löste sich von der Spitze eines Eiszapfens. Sie schaute so lange hin, bis er gefallen war, dann drehte sie sich zu ihrer Tochter um. „Ich weiß es nicht“, gab sie zu. „Aber ich wünschte, du hättest wenigstens gefragt.“ Sie betrachtete das letzte Bild von sich und Greg, wie sie ungelenk recht und links von Daisy standen, die das Baby in den Armen hielt. Sie machte sich Sorgen, Daisy nie die wichtigste Lektion gelehrt zu haben, die ein Kind von seinen Eltern lernen sollte: dass Eltern ihre Kinder bedingungslos liebten und bei allem unterstützten.
Sie schloss das Buch und legte ihre Hände darauf. „Ich wünschte, diese Bilder würden eine andere Geschichte erzählen. Mir war nicht bewusst … Woran ich nicht gedacht habe, als das alles passiert ist, war, wie aufmerksam du warst und was meine Probleme mit dir gemacht haben. Du hast es alles gesehen, oder? Jede einzelne Minute.“
„Nun, ja.“
„Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Ich habe mir bessere Erinnerungen für dich gewünscht …“
„Ich will mich daran erinnern, Mom. An alles, das Gute und das Schlechte. Warum sollte ich auch nicht?“
Sophie umarmte ihre Tochter und schloss die Augen. Auch wenn sie zwei erwachsene Frauen waren, die einander hielten, fühlte sie sich in die Vergangenheit zurückversetzt. Sie konnte sich Daisy noch gut in jedem Alter vorstellen, von dem zerbrechlichen Neugeborenen über das lachende kleine Mädchen bis hin zu der unabhängigen jungen Frau. „Ich erinnere mich auch“, flüsterte sie. „Ich erinnere mich an jede einzelne Minute.“
Daisy trat einen Schritt zurück und lächelte. „Ich habe gerade heute darüber nachgedacht. So lang wie jetzt waren wir nicht mehr zusammen, seit ich in der achten Klasse war.“
Das war alles so bittersüß. „Du hast darüber Buch geführt?“
„Nein, es ist mir nur irgendwie im Gedächtnis geblieben. Aber ich war immer stolz auf dich. Max auch. Wir haben es dir nur nicht immer gezeigt. Wir wussten beide, dass die Arbeit für den Internationalen Strafgerichtshof wichtiger ist, als im Komitee für die Uniform des Musikkorps zu sitzen.“
„Trotzdem war ich nicht da.“
„Max und ich hatten doch alle möglichen Leute, die sich um uns gekümmert haben. Es ist ja nicht so, als wären wir von Wölfen aufgezogen worden.“
„Ich hasse es, dass ich so viel fort war. Ich wünschte, ich wäre an jedem einzelnen Tag da gewesen. Vielleicht wäre dann für dich auch alles anders gekommen.“
„Mom. Hör mir zu. Meine Fehler habe ich selber gemacht. Daran trägst du keine Schuld und Daddy oder sonst wer auch nicht.“ Sie zog die Jacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. „Du bist nicht ausgelastet.“
„Wie bitte?“
„Du musst mehr zu tun haben, als dir ständig Gedanken über solche Sachen zu machen. Mit deinem Umzug hierher hast du in einer Sekunde von hundert auf null abgebremst.“
„Das war der Sinn der Sache.“
„Es ist aber durchaus möglich, etwas zu tun, abgesehen davon, dich um Max und mich zu kümmern. Du bist doch immer noch Anwältin, oder?“
„Ja, aber ich praktiziere nicht.“
„Das könntest du aber, wenn du wolltest.“
„Was willst du mir damit sagen?“
„Ich will, dass du in Avalon glücklich bist, weil ich möchte, dass du hierbleibst. Und zu arbeiten macht dich glücklich.“
„Ich
bin
glücklich …“
„… wenn du Menschen hilfst, und damit meine ich nicht nur mich. Ich will nicht dein Vollzeitjob sein. Alle möglichen Leute brauchen Hilfe. Ruf Onkel Philip an.“
Philip – Gregs Bruder. „Warum, um alles in der Welt, sollte ich ihn anrufen?“
„Er ist ehrenamtlich in der Handelskammer tätig und kennt in dieser Stadt jeden. Er könnte dich den Leuten vorstellen. Du weißt schon, anderen Anwälten und so.“
„Du bist eine erstaunliche Tochter, Daisy.“
„Ja, so bin ich. Und jetzt komm mit raus und sag allen Hallo.“ Sie senkte die Stimme. „Sonnet und Zach waren ein wenig komisch miteinander, aber ich hab die Sophie Bellamy gemacht.“
„Und was soll das sein?“
„Na, dein diplomatisches ‚Ich stifte Frieden‘-Ding. Sonnet hat gesagt, dass sie Zach nicht sehen will, aber auf dem Bahnhof habe ich sie beide überredet, sich wieder zu versöhnen oder wenigstens so zu tun als ob.“
Sophie tupfte sich die Wangen mit einem Taschentuch ab. Sie hörte Stimmen im Wohnzimmer. Schnell zog sie ihren Taschenspiegel hervor, um ihr Make-up zu überprüfen. Seitdem sie hier war,
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