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Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregor Sander
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fast schon zu ahnen. Im Krankenhaus sah man kaum das Tageslicht, weil unsere Arbeitsräume fensterlos im Inneren des Hauses lagen. Ich hätte mich auch gern in die Mailuft gesetzt und eine Zigarette geraucht, aber Kerstin strich sich über ihren Bauch und sagte: »Lass uns noch warten. Wenn wir im Strandhotel sind, erst dann.«
    Ich hatte sie überredet, mit zu Janas Geburtstag zu kommen. Die wohnte inzwischen in einer kleinen Einraumwohnung mit Außenklo im Viertel hinter dem Bahnhof. Man hatte sie ihr zugewiesen, nachdem man ihre Eltern in den Westen hatte reisen lassen. Ohne sie. Vier Tage nach Janas achtzehntem Geburtstag und vier Tage nachdem sie den Ausreiseantrag ihrer Eltern nun als Volljährige bestätigt hatte. »Eh, die lassen mich hier schmoren, Assi«, hatte Jana gesagt. »Das ist doch Methode. Die Alten lassen sie raus, und ich kann hier schön sitzen bleiben.« Sie hockte auf dem Sofa meiner Eltern und wischte sich den Rotz von der Nase. Noch nie hatte ich sie so verloren gesehen. »Das Ding ist ja, ich vermisse die Alten gar nicht. Nikto nje otsutstwujet. Auch unsere Scheißwohnung vermisse ich nicht. Aber wie lange lassen die mich denn jetzt hier warten? Drei Jahre, fünf, acht? Dann bin ich Ende zwanzig. Ne alte Frau bin ich dann, Assi.« Ich nahm sie in den Arm, und sie ließ sich sogar in den Arm nehmen an diesem Tag.
    Nach dem Abi wollte sie sofort nach Berlin gehen, aber das wurde ihr untersagt. Zuzugsverbot für die Hauptstadt der DDR. Jana fing als Kellnerin an zu arbeiten im Strandhotel am Ufer des Tollensesees. Dort wohnten schon seit Jahren keine Gäste mehr, aber das Restaurant war beliebt bei den Neubrandenburgern. Und am Sonntagabend war jede Woche Disko in den drei Räumen der Gaststätte, die ineinander übergingen. Jana verdiente dort etwa fünf Mal so viel wie ich im Krankenhaus. Sie hatte einen Freund in Berlin, bei dem sie ihre freien Tage verbrachte. Pit, ein hochaufgeschossener, schrecklich dünner Schauspielschüler, mit dem ich nicht klarkam. Aber Jana konnte auch Tobias nicht leiden, meinen Freund, bei dem ich jede freie Minute verbrachte. Er studierte in Rostock Medizin und hatte ein Praktikum auf der Urologie gemacht, und es hatte nicht lange gedauert, bis aus uns ein Paar wurde. »Sonst wärst du vermutlich auch vor Langeweile gestorben da zwischen deinen Pisspötten«, hatte Jana gesagt und sich dann nach dem ersten Treffen mit mir und Tobias im Strandhotel aber doch schnell festgelegt: »Ein Langweiler, Assi. Zeitverschwendung, wenn du mich fragst.« Ich hatte sie aber nicht gefragt, und so redeten wir nicht über die Kerle, und sonntags ging ich nach der Spätschicht ins Strandhotel, trank Gin Tonic oder Grüne Wiese an der Bar umsonst, tanzte ein bisschen und fuhr dann nach Hause. Meine Eltern schliefen längst und schliefen noch, wenn ich zum Frühdienst musste am nächsten Morgen, oder waren verschwunden, wenn ich erst am Nachmittag mit der Arbeit begann.
    Manchmal nahm ich meine Kolleginnen mit ins Strandhotel. Auch Kerstin war schon mitgekommen, aber bevor sie schwanger war. Der Bus fuhr vom Bezirkskrankenhaus runter Richtung Bahnhof. Wir fuhren durch die Oststadt in der Tausende Menschen lebten und trotzdem niemand auf der Straße war. »Die haben alle schön »Tatort« geguckt, und jetzt gehen sie ins Bett.« Neubrandenburg war stillschweigend verkabelt worden vor Jahren. Jeder bekam Westfernsehen, wenn er wollte, und es wollten eigentlich alle. Wir fuhren an Kerstins Haltestelle vorbei, und fast war es mir peinlich, weil ich nicht wusste, wie sie später nach Hause kam. »Vielleicht können wir uns ja ein Schwarztaxi teilen«, hatte ich vorher gesagt, um sie rumzubekommen. »Oder wir kriegen den letzten Bus?« Aber es war nicht sicher, ob es heute Schwarztaxen gab. Ich wollte nicht allein zu Jana ins Strandhotel, weil sicher Pit da war oder irgendwelche anderen Leute aus Berlin dort rumhingen, die ich nicht kannte. Kerstin sah aus dem Fenster, und als wir an ihrem Wohnblock vorbeigefahren waren, der still im leicht violetten Licht der Straßenlaternen lag, sagte sie: »Was will die denn im Westen, die Jana. Was will die denn da machen? Ich könnte das nicht, ich würde hier nicht wegwollen.« Ich verstand sie und gleichzeitig kam sie mir auch klein und doof vor, wie sie dasaß und in diese trostlose Oststadt stierte.
    Ich sah Julius sofort. Die Einlasser kannten mich inzwischen dank Jana und winkten mich und Kerstin an der leicht murrenden Schlange vorbei, die

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