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Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregor Sander
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draußen vor der Tür stand. Wir gaben unsere Jacken ab und gingen durch den Wintergarten in den großen Speisesaal, wo die Anlage stand und die Bässe wummerten. Es lief »Sweet dreams« von den Eurythmics und ich wusste, dass danach »Tainted love« von Soft Cell kommen würde, und wenn der DJ dann »Don’t go« von Yazoo auflegte, dann würden wirklich alle tanzen. Auf der Tanzfläche aus einem abgelaufenen Parkett, die auch heute begrenzt wurde von weiß eingedeckten Restauranttischen. Vielleicht weil so viele tanzten, sah ich Julius sofort am Tresen lehnen, allein, und hinter ihm stand Jana und polierte ein Glas. Beide hatten mich noch nicht gesehen, und für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich einfach wieder gehen sollte. Verschwinden, Kerstin unter den Arm nehmen und rauslaufen. Die würde das verstehen, der könnte ich das draußen erklären. Ich hatte ihr genug erzählt von Julius in unseren gemeinsamen Schichten.
    Aber ich wollte nicht weglaufen vor Julius Herne. Kerstin stand neben mir und lächelte vergnügt. Sie beugte sich vor und brüllte mir ins Ohr: »Ich war schon so lange nicht mehr aus.« Sie roch nach Desinfektionsmittel. Wofasept, scharf, fast süßlich. So wie ich vermutlich auch roch. Ich beschloss zu bleiben, und genau in diesem Moment löste sich aus der Menge der Tanzenden ein Mädchen und ging auf Julius zu. Sie trug einen roten Lederrock und ein weißes Shirt, das aus verschiedenen Stoffflicken bestand. Ihre Haare waren kurz und vorn zu einer Popperlocke geschnitten. Flüchtig küsste sie Julius und versuchte ihn auf die Tanzfläche zu ziehen. »Da kannste lange ziehen«, dachte ich, aber dann löste er sich vom Tresen und folgte ihr. Janas Blick traf meinen, sie grinste und stürmte dann auf mich los, so als würde auch sie befürchten, dass ich gleich wieder gehen könnte.
    »Hättest du mir sagen können, dass der da ist«, sagte ich zu ihr und verschränkte die Arme vor der Brust. Jana hakte mich ein und sagte: »Wärst du dann gekommen?« Ich schüttelte den Kopf. »Na also!« Jana sah zu Kerstin, die in einer verwaschenen Jeanslatzhose dastand und den Takt der Eurythmics mitwippte. Jana beugte sich zu mir und sagte: »Haste wieder ’ne Karbolmaus mitgebracht. Sieht scharf aus mit ihrem Braten in der Röhre.«
    Ich ließ sie stehen und zog Kerstin auf die Tanzfläche, wo wir wenigstens noch »Tainted love« erwischten. Ich bugsierte sie in die maximale Entfernung zu Julius, aber er sah mich natürlich irgendwann und kam strahlend auf mich zu. Jede zweite Nacht hatte ich von ihm geträumt seit einem Dreivierteljahr, und jede zweite Nacht ließ er mich irgendwo allein zurück. Im Forsthaus, bei meinen Eltern oder auf meinem alten Schulhof, obwohl wir ja nie zusammen zur Schule gegangen waren.
    Er blieb vor mir stehen, so als wäre nicht eine wabernde Menschenmasse um uns herum, er strich mir die Haare hinter das Ohr, beugte sich vor und sagte: »Na, du.« Alison Moyet sang tief und endlos lang »Don’t goooooooo«, und ich dachte »Scheiße« und spürte, wie ich ihn anlächelte.
    Er trug ein weißes Leinenhemd, das er drei Knöpfe weit aufgelassen hatte, und vor seiner weichbehaarten Brust baumelte das Lederband, das ich ihm vor ein paar Monaten an der Ostsee umgebunden hatte. Seine nagelneuen weiß-schwarzen Adidasturnschuhe leuchteten im zuckenden Licht fast lila, und die Lichtpunkte der Diskokugel gingen über sein Gesicht. Es sah aus, als würde er sich freuen, mich zu sehen. Kerstin tanzte wackelnd hinter ihm und sah immer links und rechts an seinen Schultern vorbei und mir immer ins Gesicht und gab mir irgendwelche Zeichen. Ich verstand sie nicht und ließ mich von Julius von der Tanzfläche führen, über das abgelaufene Parkett stolperte ich ihm hinterher durch den vollen Wintergarten, vor dessen Fenster man den See liegen sehen konnte. Still und schwarz.
    Es war immer noch warm draußen, fast schon Sommer, und Julius legte seinen Arm um mich. Wir mussten an der Straße warten, weil drei Jungs mit ihren Enduros vor dem Strandhotel hin und her fuhren und auf Höhe der Eingangstür die Vorderräder hochrissen, johlend auf den Hinterrädern fuhren und dann scharf bremsend wendeten, um wieder von vorn zu beginnen. Schelfwerder, das kleine Dorf am Ufer des Tollensesees, lag wie ausgestorben, nur die Terrasse des alten Hotels war bevölkert von Jugendlichen, die jeden Sonntag hierher zum Tanzen kamen. Dann, wenn das Wochenende eigentlich vorbei war, und es war die

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