Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher (German Edition)
treffen.
So geht das Zeitalter der Rationalität mit einer bemerkenswerten Erkenntnis zu Ende: Denken können wir, was wir wollen. Sogar Handeln können wir – zumindest eine Zeitlang – nach unserem eigenen Gutdünken. Aber um glücklich und zufrieden, mutig und zuversichtlich leben zu können, müssen wir in der Lage sein, etwas zu empfinden. Wir müssten also die Intelligenz und die Kraft unserer Gefühle wieder erkennen, schätzen und nutzen lernen. Nur so könnten wir einen Ausweg aus dem Irrsinn unserer gegenwärtigen Lebenswelt finden, in den uns der Einsatz des nackten Verstands geführt hat. Wir müssten versuchen, die verloren gegangene Einheit von Denken, Fühlen und Handeln, von Rationalität und Emotionalität, von Geist, Seele und Körper wiederzufinden. Sonst laufen wir Gefahr, uns selbst zu verlieren.
Wir werden also Abschied nehmen müssen von der noch aus dem Maschinenzeitalter stammenden Idee, der Mensch sei zerleg- und reparierbar wie ein Auto. Wir werden auch Abschied nehmen müssen von der jahrhundertealten Vorstellung, dass unser Denken von unserem Fühlen folgenlos getrennt und als separate Entität betrachtet werden könnte. Und wir werden auch gleich wieder Abschied nehmen müssen von der gegenwärtig noch mit viel Emphase von manchen Hirnforschern propagierten Vorstellung, man müsse nur das Gehirn eines Menschen hinreichend gut analysieren, um zu verstehen, was er denkt, wie er fühlt und weshalb er so handelt, wie er es tut. Sicher war in der Vergangenheit vieles von dem, was Menschen geschaffen oder angerichtet haben, nur deshalb zu leisten, weil sie diese sonderbare Kunst, ihr Denken von ihrem Fühlen abzutrennen, so gut erlernt hatten, oder besser: weil sie so gut dazu gezwungen wurden. Aber dieser Umstand macht nur allzu deutlich, dass es da noch eine zweite, zumindest ebenso fatale wie falsche Vorstellung gibt, von der die Menschen des nun auslaufenden Zeitalters zumindest in der westlichen Welt ebenso fest überzeugt waren: dass all das, was im Gehirn eines einzelnen Menschen vorgeht, losgelöst von all dem betrachtet, analysiert und verstanden werden könne, was in den Gehirnen all jener anderen Menschen passiert, bei denen er aufwächst, mit denen er in Beziehung tritt, die er braucht und die ihn brauchen, um gemeinsam über sich hinauswachsen zu können. Wir müssten also sorgfältiger darauf achten, was wir uns gegenseitig alles einreden. Und wir müssten besser aufpassen, dass wir einander nicht wie Objekte benutzen. Wie schnell das passiert und weshalb das leichter geschehen kann, als man denkt, schauen wir uns im nächsten Kapitel etwas genauer an.
5.
Was haben wir aus uns gemacht?
Warum wollen wir aus uns oder aus anderen ständig etwas machen? Und weshalb ausgerechnet das und nicht etwas anderes? Was leben wir unseren Kindern vor? Wofür sind wir ihnen Vorbild? Was brauchen sie, was erwarten sie von uns? Wovon hätten wir im Leben selbst etwas mehr gebraucht, um es heute an andere Menschen verschenken zu können?
Können Sie sich vorstellen, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie nicht hier in Deutschland, sondern irgendwo anders zur Welt gekommen und aufgewachsen wären? Vielleicht in der mongolischen Steppe, in den Slums von Kalkutta oder im tropischen Regenwald Brasiliens? Sie wären jemand geworden, der ganz andere Erfahrungen gemacht hätte, der anderes gelernt, andere Fähigkeiten erworben, sich anderes Wissen angeeignet hätte. Aussehen würden Sie – zumindest nackt – wohl noch so ähnlich, wie Sie heute aussehen. Aber Sie würden ganz anders denken, wohl auch anders empfinden und sich mit Sicherheit ganz anders verhalten, und Sie hätten natürlich auch ein völlig anderes Gehirn, jedenfalls in all jenen Bereichen, die sich erst erfahrungsabhängig nach der Geburt strukturieren.
Sie hätten sich also nicht einfach nur an die Lebensweise derjenigen Menschen angepasst, bei denen Sie aufgewachsen sind. Sie wären auch so geworden wie sie. Auch konstitutionell. In Bezug auf die Ausprägung einzelner körperlicher Merkmale nur so gut, wie das im Rahmen Ihrer genetischen Ausstattung möglich war. Aber die komplexen neuronalen Vernetzungen in Ihrem Großhirn hätten sich von ganz allein genauso herausgeformt wie bei all den anderen Kindern, mit denen Sie in den jeweiligen Lebensräumen aufgewachsen wären – als Baumkletterer, Lumpensammler oder Schafzüchter. Genetisch wären Sie gleich geblieben, aber Sie hätten sich anders zu bewegen gelernt, hätten
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