Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher (German Edition)
bemerken wollten, weil es nicht zu unseren Vorstellungen passte, haben wir nicht oder erst viel zu spät erkannt.
All das, was nicht deutlich genug sichtbar wurde, um unseren Verstand wachzurütteln, haben wir bei unserer eifrigen Gestaltung der Welt nach unseren Vorstellungen nur allzu leicht und allzu gern übersehen. Nun ist die von uns auf diese Weise gestaltete Welt vor allem eines geworden: komplizierter, weniger überschaubar und schwer zu kontrollieren. Jetzt geht es uns ähnlich wie dem Zauberlehrling, der den vermeintlich guten Geist, den er rief, wieder loszuwerden versucht. Nur ganz allmählich und recht schmerzlich wird uns bewusst, wie schwer es uns fällt, uns von Vorstellungen zu verabschieden, die unser Fühlen, Denken und Handeln über so lange Zeit und über so viele Generationen hinweg so erfolgreich gelenkt haben. Was sich für die Verfechter der vielen Ideen von einer besseren Welt inzwischen schneller als von ihnen erwartet bewahrheitet hat, steht uns mit unserer abendländischen Vorstellung von Weltverbesserung allerdings noch bevor: ein möglichst klagloser und wenig Aufsehen erregender Abschied vom Machbarkeitswahn.
So geht das Zeitalter der nackten Vernunft kleinlauter zu Ende, als es begonnen hatte. Die erst vor wenigen Jahrhunderten aufgekeimte und dann lauthals verkündete Hoffnung, der Mensch sei mit Hilfe seines Verstandes und rationaler Entscheidungen in der Lage, Krieg und Elend, Not und Leid, sogar seine Ängste und Krankheiten zu überwinden, hat sich nicht erfüllt. Und glücklicher sind die Menschen auch nicht geworden, geschweige denn zuversichtlicher. Die Experten der WHO prognostizieren für die kommenden Jahre einen dramatischen Anstieg von Depressionen und Angst-bedingten psychosomatischen Erkrankungen in den hochentwickelten Industriestaaten. Ein Mangel an Wissen kann die Ursache dafür nicht sein. Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte war der Zuwachs an neuen Erkenntnissen so groß wie heute. Nie zuvor war Wissen in dieser Menge für so viele Menschen verfügbar. Und noch nie gab es so viele technische Möglichkeiten, sich zu informieren, Wissen untereinander auszutauschen und miteinander in Kontakt zu treten. Die überwiegende Mehrheit der Menschen in den hochentwickelten Industriestaaten leidet auch nicht an einem Mangel an materiellen Gütern. Von Hunger und Armut sind nur wenige bedroht. Obwohl die ärztliche Kunst in diesen Ländern in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht hat und die medizinische Versorgung immer besser geworden ist, steigt die Zahl körperlich kranker und seelisch leidender Menschen ständig weiter an.
Irgend etwas stimmt nicht. Irgendwie sind wir auf unserer Suche nach einem besseren Leben in eine Sackgasse geraten. Genau das, was manche schon seit längerem geahnt oder gar prophezeit hatten, scheint jetzt eingetreten zu sein: Der nackte Verstand, mit dem wir bisher versucht haben, besser voranzukommen, hat uns offenbar auf einen fatalen Irrweg geführt. Mit Hilfe unseres rationalen Denkens ist es uns zwar gelungen, die größten Bauwerke zu errichten, die es jemals auf der Erde gab, alle nur denkbaren technischen Hilfsmittel zur Erleichterung des Lebens zu erfinden, sogar auf den Mond zu fliegen und ein erdumspannendes Kommunikations- und Informationsnetz aufzubauen. Aber die Probleme, die uns das Leben und vor allem unser Zusammenleben bereitet, sind in den letzten Jahren eher größer als geringer geworden.
So stellt sich – erstmals seit dem Beginn der Aufklärung – wieder die Frage, ob der Mensch wirklich gut beraten ist, wenn er sich bei seinen Entscheidungen allein auf seinen Verstand und seine Fähigkeit zum rationalen Denken verlässt. Die Antwort auf diese Frage ist einfach und nach allem, was wir in den letzten Jahren an neuen Erkenntnissen über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns in Erfahrung gebracht haben, paradoxerweise sogar mit wissenschaftlichen Verfahren – also durch den Einsatz von Verstand und rationalem Denken – beweisbar geworden: Das Denken allein ist kein geeignetes Instrument, um sich damit in der Welt zurechtzufinden. Im Gegenteil. Je komplexer die mit Hilfe dieser Ratio gestaltete Lebenswelt wird, je stärker sich das Spektrum der Handlungsmöglichkeiten des Menschen erweitert, desto mehr versagt das rationale Denken, wenn es darum geht, komplexe Zusammenhänge zu erfassen und sinnvolle, d.h. das eigene Überleben sichernde, Weiterentwicklung ermöglichende Entscheidungen zu
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