Wege im Sand
zwischen ihnen.
Jacks Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, wie er in den Muskeln um die Mundpartie spürte, aber es schlug sich nirgendwo sonst nieder. Das Lächeln war nur aufgesetzt, nicht tief in seinem Inneren empfunden. Das war der größte Fluch, der mit Emmas Verlust einherging. Er war abgestumpft bis ins Mark, als hätte der Winter für den Rest seines Lebens Einzug gehalten. Ein Hüne von einem Mann, fast einen Meter neunzig groß, Hochleistungssportler, seit er einen Ball werfen konnte, und er fühlte nicht das Geringste. Seine Mannschaftskameraden im Basketballteam ahnten nichts davon, seine Tennispartner hatten keinen blassen Schimmer, und die Frauen, mit denen er ausging, wären nie auf die Idee gekommen; sogar Madeleine, seine eigene Schwester, tappte im Dunkeln.
Nell war die Einzige, die Bescheid wusste, und der Gedanke daran war ihm ein Gräuel.
Die Straße zur Landzunge schlängelte sich vom Strand bergauf, an den Tennisplätzen vorbei. Nell spähte rasch hinüber, gerade rechtzeitig, um zu entdecken, wie sich ihr Vater und Francesca am Netz küssten; sie waren zu beschäftigt, um hochzublicken und sie zu bemerken. Mit anschauen zu müssen, wie ihr Vater Francesca küsste, versetzte ihr einen Stich, als würde ihr jemand einen Dolch ins Herz stoßen, und trieb sie zu größerer Eile, um zu dem Ehemals-blauen-Haus zu gelangen. Sie stapfte den Hügel hinauf, wandte sich auf der Kuppe nach rechts.
Hier auf dem Point waren die Schatten sanft und dunkel. Nell verlangsamte den Schritt, betrachtete die Häuser und versuchte festzustellen, wo sie sich, vom Strand aus gesehen, befand. Ihre Eltern hatten sich über Hubbard’s Point unterhalten, waren aber nie mit ihr hergefahren. Die Familie lebte in Atlanta und machte Urlaub auf den malerischen Inseln, die der Küste von Georgia vorgelagert waren.
Nell war an die weißen Sandstrände des Südens, an das weiche grüne Gras und das warme Wasser gewöhnt … nicht zu vergleichen mit der zerklüfteten Felsenküste, dem eisigen Wasser des Long Island Sound. Eine klippenreiche Bucht wurde linker Hand durch die Bäume sichtbar. Einige der Gärten waren prachtvoll, quollen über vor Rosen und Lilien. Ein paar hatten einen Fahnenmast. Bei manchen der beflaggten Häuser waren hübsche Blumenkästen vor den Fenstern angebracht, bepflanzt mit Hängepetunien und Efeu.
Plötzlich entdeckte Nell auf dem Hügel, der zu ihrer Rechten aufragte, einen Garten ganz anderer Art. Er bestand überwiegend aus Felsen, mit hohem, wild wachsendem Gras in den Lücken zwischen Büschen und Bäumen. Lilien blühten im Schatten, gelbe und orangefarbene Sprenkel, wie Vögel, die sich im Wald verbargen. Kiefernnadeln und Eichenblätter raschelten über ihr, und Steinkraut überwucherte die Risse in den Steinstufen, die den Felsenhügel hinaufführten. Nells Herz klopfte zum Zerspringen, als sie das Schild sah:
BETRETEN VERBOTEN
Die Buchstaben waren von Hand mit weißer Farbe auf ein graues Stück Treibholz geschrieben, das an einen Pfosten genagelt und in den Boden neben der Steintreppe gerammt worden war. Nell hob den Blick und musterte das Haus. Es besaß einen weißen Anstrich, doch die Farbe hatte im Schatten der beiden hohen Eichen einen beinahe bläulichen Schimmer.
Nells Blick kehrte zu dem Schild zurück. Dann betrachtete sie erneut das Haus. Peggys Worte, die Frau sei eine Hexe, lösten einen Widerstreit der Gefühle in ihr aus. Was war, wenn sie boshaft und Furcht erregend war und sie mit einem Fluch belegte? Der Gedanke jagte Nell einen eiskalten Schauder über den Rücken.
Aber irgendetwas war stärker als die Angst: Liebe, Sehnsucht, ein dringender Wunsch. Sie hatte einen Kloß im Hals. Doch ihre Füße setzten sich wie von selbst in Marsch, trugen sie den Hügel hinauf, dann beschleunigte sie ihren Schritt. Als sie nach oben blickte, erspähte sie ein Gesicht im Fenster. Sie hatte Angst, doch nun gab es kein Zurück mehr. Sie war barfuß, und plötzlich blieb sie mit dem Zeh an einem Felsbrocken im Garten hängen, stolperte, fiel und schrammte sich beide Knie auf.
Stevie Moore hatte an ihrem Küchentisch gesessen, mit dem Aquarellpinsel in der Schwebe, und beobachtete die Kolibris vor dem Fenster, die pfeilschnell in die Klettertrompeten hinein- und wieder hinausflogen. Tilly, ihre siebzehn Jahre alte Katze, hockte neben ihr auf dem Tisch, nicht weniger aufmerksam. Stevie versuchte den Wesenskern eines Kolibris einzufangen, der nach ihrer Meinung in der
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