Vertrau mir
1.
» F rau Ravensburg?« fragte der schlaksige Mann mit schütterem blonden Haar die Frau, die sich im Foyer des kleinen Versammlungshauses umsah. Als Anna nickte, stellte er sich vor: »Mein Name ist Lassen. Ich bin der Vorsitzende des Marburger Tierschutzverbandes. Es freut mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen. Schön, dass Sie sich die Zeit für diese Veranstaltung nehmen. Wir sind gespannt auf Ihren Vortrag.«
»Ich danke Ihnen für die Gelegenheit«, erwiderte Anna mit ihrer etwas dunkel klingenden Stimme. Trotz der einszweiundsiebzig, die sie maß, wirkte sie neben dem hochaufgeschossenen Mann klein. »Wir hatten ja leider keine Zeit mehr, den Inhalt abzustimmen.«
Lassen lächelte entschuldigend. »Frau Ravensburg, bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich das anspreche. Ich muss Sie bitten, also Sie dürfen bitte keine . . .« Lassen suchte nach Worten.
Ein wissendes Lächeln erschien auf Annas Lippen. Sie ahnte, worin sein Problem bestand. »Keine Sorge«, beruhigte sie ihn. »Meine Zeit als radikale Tierschützerin ist vorbei. Ich habe mich auf Aufklärungsarbeit verlegt. Deshalb bin ich hier. Ich halte lediglich einen Vortag über Sinn und Unsinn von Tierversuchen.«
Lassen atmete erleichtert auf. »Sehr schön.« Er wies mit der Hand auf eine Tür. »Sie werden erwartet.«
Anna schaute in die Gesichter von etwa fünfundzwanzig Anwesenden gemischten Alters und gemischten Geschlechts. Sie wusste, die meisten im Publikum waren hier, weil sie ein Haustier besaßen – Hamster, Hund oder Katze – und den Gedanken schrecklich fanden, ihr Liebling würde in einem Tierversuch sein Ende finden. Sie liebten Tiere, waren sicher, ihnen nichts Böses zu tun. Sie suchten im Grunde nur die Bestätigung, dass sie alles richtig machten. Diese Bestätigung wollte Anna ihnen verweigern.
Sie lächelte den Anwesenden verhalten zu. »Vielen Dank für Ihr Erscheinen, vielen Dank für Ihr Interesse. Ich hoffe, dieser Informationsabend wird nicht zu unangenehm für Sie werden. Das Thema ist jedenfalls gerade dazu geschaffen, jemandem einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen.« Immer noch sah sie in ruhige, wohlwollende Gesichter. Erwartung mischte sich hinein. Die beste Voraussetzung, einen Denkprozess in Gang zu setzen. Und genau das hatte Anna vor. Ohne ihre Stimme besonders zu heben, begann sie mit dem ersten Teil ihres Vortrages.
»Ich möchte mit Ihnen eine kleine Alltagsbetrachtung durchführen. Beginnen wir mit der Frage: Wie oft gehen Sie in der Woche in den Supermarkt einkaufen? Zwei, drei Mal? Ist Ihnen dabei schon einmal der Gedanke gekommen, dass dieser Ausflug in den Supermarkt eigentlich mehr dem Besuch eines Chemielaboratoriums gleicht? Allein in der Lebensmittelabteilung finden Sie Unmengen verschiedener chemischer Stoffe. Sie werden den Lebensmitteln zugesetzt, um den Geschmack und das Aussehen zu ändern oder die Haltbarkeit zu verlängern. Sie gehen weiter zu den Haushaltsprodukten. Regal für Regal präsentieren sich die verschiedensten bunten Flaschen, und jede verspricht, unseren Alltag besser zu machen. Seifen, Shampoos, Waschmittel, Haarfarben, Fleckenentferner, Make-up und so weiter. Alle diese Produkte enthalten chemische Stoffe und haben eine Verpackung, welche wiederum chemische Stoffe enthält, die in das eigentliche Produkt abgegeben werden können und bei der Müllentsorgung umweltgefährdende Stoffe ausscheiden.
Im Anschluss an Ihren Einkauf setzen Sie sich ins Auto, welches ebenfalls chemische Stoffe enthält, wie zum Beispiel Lacke, starten den Motor, der wiederum verschiedene Stoffe an die Luft abgibt, die wir dann einatmen. Auf dem Weg nach Hause kommen Sie vielleicht an einer Apotheke vorbei, wo Sie einige Artikel kaufen. Vielleicht ein Medikament gegen eine ernste Krankheit, aber oft einfach ein Mittel, das nur helfen soll, den Alltag einfacher zu machen und vielleicht bei einigen Symptomen, die Ihnen der Ausflug in den Supermarkt eingebracht hat, Abhilfe zu schaffen. Diese Mittel sind zum Beispiel Antiallergiemittel, Cremes gegen trockene Haut, Kopfschmerztabletten, Schlankmacher oder Nikotinpflaster.
Sie kommen nach Hause, und wieder sind Sie von einer Unzahl chemischer Stoffe umgeben. Die Farbe an der Wand gibt langsam chemische Stoffe ab, die Sie einatmen, die Möbel sind imprägniert, damit Flecken leichter abgewischt werden können. Irgendwo hat jeder ein Schränkchen mit Poliermittel für Fahrrad und Auto, Unkraut- und Ungeziefervernichter. Und
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