Weihnachten steht vor der Tür
Weihnachten ausgibt und dann als schäbiger Nikolaus entpuppt, habe ich nur Verachtung übrig.
10. Dezember
Die Tage vergehen und Weihnachten zeigt sich nicht. Das erinnert mich an meinen ersten Maulwurf. Eine ganze Woche lang habe ich ihn belauert, bis ich ihn endlich gefangen hatte. Und dann kam Fränzchen und hat ihn mir abgenommen und mit viel Geschrei in Sicherheit gebracht.
In Sicherheit gebracht! Vor mir!
Manchmal beneide ich meinen Urgroßvater. Endlose, hoch gewachsene Wälder. Und kein maulwurfrettendes Fränzchen, keine vogelbesessene Ellen weit und breit. Das reine Paradies.
Fehlt nur noch, dass Marlene eine Leidenschaft für Mäuse entwickelt.
12. Dezember
Der Mann hat einen Weihnachtsbaum mitgebracht, vielleicht ein letzter Versuch, Weihnachten anzulocken, denn er war immer noch nicht da. Womöglich ist Weihnachten sehr scheu. Vielleicht strengen sich deshalb alle so für ihn an.
Der Baum steht auf der Terrasse, der kräftige Wurzelballen mit rauem Mull umwickelt. Ich nehme an, er soll Weihnachten geopfert werden. So wie man früher anderen Gottheiten Opfer brachte. Ob sie ihn verbrennen? Oder auf einen Altar legen, sich das Gesicht anmalen und fußstampfend um ihn herumtanzen? Ich habe ihn beschnuppert. Er riecht, wie alle Tannenbäume riechen.
14. Dezember
Gestern habe ich etwas Sonderbares entdeckt: In anderen Häusern warten sie auch auf Weihnachten. Die Nachbarn haben einen alten, feigen Dackel, den Waldemar. Sie nennen ihn Waldi. Waldi!
So zwei-, dreimal die Woche gehe ich bei ihm vorbei, um seinen Napf leer zu fressen. Es würde Waldemar nicht einfallen, mich daran zu hindern, seit ich ihm einen kräftigen Hieb auf die Nase verpasst habe.
Es gab Leber.
Das ist nicht gerade mein Leibgericht, aber immer noch besser als stinkiger, fauliger Pansen.
Ich hockte also vor dem Napf und fraß. Waldemar saß ein angemessenes Stück von mir entfernt und beäugte mich. Teils feindselig, teils unterwürfig. Das Wasser lief ihm im Maul zusammen und er wimmerte leise. Weil er tatenlos mitansehen musste,
wie die Leber, Bröckchen für Bröckchen, in meinem Bauch verschwand.
Da hörte ich, wie in der Küche die Nachbarin von Weihnachten sprach.
Ich fauchte Waldemar ein bisschen an, nur um in Übung zu bleiben, und trollte mich auf die Terrasse, um zu lauschen. Und da lag ein Tannenbaum, genau wie bei uns. Nur dass dieser ein toter Tannenbaum war. Man hatte ihm die Wurzeln abgeschnitten und seine Zweige waren mit einem Strick gefesselt.
Augenblicklich hatte ich eine Wahnsinnswut auf diesen Weihnachten. Wie viele Opfer brauchte er denn noch? Wie viele Tannen würden für ihn verbrannt oder auf Altäre gelegt werden? Dieser Kerl ist alles andre als scheu, dachte ich. Dieser Kerl scheint ein ausgesprochenes Scheusal zu sein.
Eine böse Ahnung trieb mich in den Garten des übernächsten Nachbarn und dann in alle Gärten meines Reviers.
Tatsächlich.
Überall lagen gefällte Tannenbäume. Große und
kleine. Üppige und eher kümmerliche. Welche mit Wurzelballen und welche ohne. Hilflos warteten sie darauf, geopfert zu werden.
Wo eine Tür offen stand, schlich ich hinein. Überall wurde gebacken und gebastelt, geflüstert und heimlichgetan. Überall bereitete man sich auf Weihnachten vor.
Mir wurde schlecht.
Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Ist er denn Herr über die ganze Stadt? Dieser Weihnachten macht mir allmählich Angst.
16. Dezember
Und wenn Weihnachten ein Maulwurf ist? Ein besonders großes, samtiges Exemplar von einem Maulwurf?
Könnte doch möglich sein.
Dann muss ich unbedingt auf Fränzchen aufpassen. Er darf mir auf keinen Fall zuvorkommen. Für meinen Geschmack hält Fränzchen sich neuerdings sowieso viel zu oft in der Diele auf. Er sagt, er will mir Gesellschaft leisten. Fast sein ganzes Spielzeug hat er um mich verstreut. Ständig muss ich über Legosteine steigen. Ständig pappen mir Sticker an den Pfoten fest.
17. Dezember
Der Mann und die Frau schreiben Weihnachtskarten. Auch die Leute von Waldemar tun das.
Es wird immer rätselhafter.
Den Maulwurf habe ich von meiner Liste gestrichen. Was sollte ein Maulwurf mit Karten anfangen?
20. Dezember
Ich habe Waldemar gefragt, ob er weiß, wer Weihnachten ist. Das hat mich eine Menge Überwindung gekostet und dann war es auch noch ganz umsonst. Waldemar ist nämlich nicht nur feig, er ist auch blöd.
Natürlich hat er es nicht gewusst. Das hat er aber nicht zugegeben.
Er hat steif und fest behauptet,
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