Weihnachtsengel gibt es doch
seinem Blick lag ein Ausdruck von Leidenschaft. Er sah genauso aus, wie Männer aussehen, kurz bevor sie eine Frau küssen. Was entweder bedeutete, dass sie wirklich schlecht darin war, die Gesichtsausdrücke anderer Menschen zu lesen, oder dass er einen ungewöhnlichen Frauengeschmack hatte.
„Alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragte er.
Sie hoffte, dass das bernsteinfarbene Licht der Parkplatzbeleuchtung half, ihr Erröten zu verbergen. „Ich bin einfach verrückt nach Schnee“, sagte sie. „Kann man nix machen.“
„Ich denke nicht, dass Sie verrückt sind“, sagte er. „Sie … Sie sehen nur ohne Brille so anders aus.“
„Jeder sieht ohne Brille anders aus.“ Schnell setzte sie sie wieder auf. „Wir sehen uns dann beim Vorsprechen.“
„Ich kann es kaum erwarten“, sagte er.
Was natürlich ironisch gemeint war. Sie hatte seinen Gesichtsausdruck eben fehlinterpretiert. Aber dieser Fehler würde ihr nicht noch einmal unterlaufen.
„Geht mir genauso“, erwiderte sie fröhlich.
„Fahren Sie vorsichtig.“
„Natürlich.“ Sie stieg in ihr Auto und startete den Motor. Sie ließ ihn eine Weile laufen, bis das Gebläse anfing zu arbeiten und die Windschutzscheibe frei machte. Die Scheibenwischer taten ihren Dienst, und bald schon erhaschte sie einen freien Blick auf den wirbelnden Himmel. Die Schönheit von fallendem Schnee raubte ihr jedes Mal wieder den Atem. Sie liebte es. Genau wie sie Weihnachten aus ganzem Herzen liebte und immer geliebt hatte. Es war die Zeit des Jahres, die sie mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammenbrachte, eine Zeit, die sie mit Hoffnung erfüllte, mit dem Gefühl, dass alles möglich war. Sie würde sich das von Eddie Haven auf keinen Fall verderben lassen.
Er schien nicht zu wissen, welche Rolle sie in der Nacht gespielt hatte, von der er ihr erzählt hatte; der Nacht seinesUnfalls. Offensichtlich wusste er nicht einmal, dass sie da gewesen war. Es war erstaunlich, wie sehr sich ihre Erinnerung an den Abend von der Eddies unterschied.
Maureen war schon ihr ganzes Leben Mitglied der Herz-der-Berge-Kirche. In jenem Jahr war sie ihr noch wichtiger gewesen als sonst. Ihr lange und sehnsüchtig erwartetes Auslandssemester am College war zu einem jähen und verheerenden Ende gekommen. Sie wusste nicht, ob sie das ohne ihre Familie überlebt hätte. Und doch hatte weder in dem Jahr noch in einem der folgenden ihr jemand die Frage gestellt, die Eddie ihr heute gestellt hatte: Sind Sie jemals von jemandem so verletzt worden, dass es Ihnen egal war, ob Sie leben oder sterben?
An jenem Abend hatte Maureen ihre Stimme im Chor hoch zu den Dachsparren und darüber hinaus geschickt. Damals wusste sie schon, dass nichts so mächtig war wie die Heilung, die sie im Schoße ihrer Familie fand. Sie hatte immer daran geglaubt, dass Weihnachten die Zeit der Wunder war. In dem Jahr, in dem sie ihre Mutter verloren hatte, war ihrem Vater ein Wunder geschehen. Er hatte wieder angefangen zu lächeln, zu leben. Und beim Weihnachtsessen der Kirche hatte er Hannah kennengelernt, die Frau, die er heiraten würde, die Frau, die seine Familie wieder ganz machen würde.
In jenem Jahr war Maureen dran.
Sie hatte sich aus den Tiefen der Verzweiflung emporgekämpft, und auch wenn sie nie frei von ihren Erinnerungen an die Zeit in Übersee sein würde – die Abenteuer, die Romantik, der Herzschmerz –, wusste sie, dass sie überleben würde. Das war doch schon mal was. Wenn man lernte, dass man das Unerträgliche überleben konnte, konnte man es mit der ganzen Welt aufnehmen.
Glücklicherweise verlangte das aber niemand von Maureen. Sie musste lediglich ihre Träume korrigieren und ihr eigenes Leben neu gestalten.
Darin hatte sie Hilfe. Sie glaubte nicht wirklich an Zeichen aus dem Universum, aber die Welt schien ihr generell gewisse Signale zu schicken. Mit gebrochenem blutenden Herzen hatte sie ihr letztes Geld in ein Flugticket nach Hause investiert. Mit nur wenigen Euros in ihrem Geldgürtel war sie am Flughafen angekommen. Dort hatte ein mit Büchern vollgestopfter Kiosk ihre Aufmerksamkeit erregt. Ja. Ihr physisches Entkommen war eins. Aber ihre Gedanken hatten auch eine Zuflucht gebraucht. Und diese Zuflucht war der verlässlichste Ort auf der ganzen Welt – zwischen den Seiten eines Buchs.
Sie hatte keinen Blick für die Ironie, dass ein Kriminalroman sie vor einem Nervenzusammenbruch rettete. Manche Menschen brauchten ein Rezept vom Arzt. Maureen brauchte einen Ausflug in einen
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