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Weißer Mann mit Brille

Weißer Mann mit Brille

Titel: Weißer Mann mit Brille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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sie sich am ganzen Leib wie zerschlagen.
    Sie warf ihren Helm auf den Tisch, ließ sich in einen Sessel fallen, um dort in die Abenddämmerung hineinzuträumen, als plötzlich Leben in ihren Blick kam, der gleichgültig auf irgendeinem Gegenstand verweilt hatte.
    Wie seltsam! Unbewußt hatte sie diesen Hut schon eine Zeitlang angesehen, ohne auf den Gedanken zu kommen, daß da ja Ferdinands doppeltgefütterter Filzhut lag. Sie riß die Augen auf, sprang hoch, voller Angst, daß sie einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen war, daß ihr ein gräßlicher Zufall einen Streich spielte, daß zum Beispiel Baligi einen Reservehut aus dem Schrank genommen hatte, daß …
    Wie sie so unschlüssig dastand, hörte sie Schritte im Zimmer nebenan. Die Tür öffnete sich, und da kam ihr auch schon Ferdinand in höchsteigener
     
    Person entgegen. Er sah genauso aus wie der Ferdinand im Busch, angetan mit einer khakifarbenen Hose und einer kurzärmeligen Jacke, die sie nur von Fotos kannte.
    »Guten Abend, Emilienne …«
    Sie spürte, daß er Angst hatte. Für einen kurzen Moment war ihre Wahrnehmungsfähigkeit um das Hundertfache erweitert. Mit einem Schlag begriff sie alles: Ferdinands große Angst, diesen Hut, der nicht zufällig hier lag, sondern gleichsam eine Brücke zwischen ihnen schlagen sollte, seine beherrschte Stimme, seine erzwungene Ruhe, sein allzu ruhiges Auftreten, das ihm eine ungeheure Anstrengung abverlangte, und auch seinen gewollt langsamen Gang.
    Mühsam brachte sie hervor:
    »Guten Abend …«
    Doch siehe da, sie umarmten einander fast mit derselben Selbstverständlichkeit, wie sie es immer getan hatten, obwohl sie beide zitterten.
    ›Davon hängt jetzt alles ab …‹, dachte Emilienne.
    Das Ausschlaggebende war der gegenwärtige Augenblick, die ersten Worte, die ihnen über die Lippen kommen, die ersten Blicke, die sie einander zuwerfen würden. Beide hatten so große Angst davor, daß sie angelegentlich im Raum umhersahen.
    Nicht von ungefähr befand sich Camille auf dem Hügel, es war auch kein Zufall, daß er schon jetzt auf das Haus zuschritt und in weniger als fünf Minuten bei ihnen sein würde.
    »Ist Yette über den Berg?« fragte Ferdinand.
    »Wußtest du … Wußtest du das? Warst du in Niangara?«
    »Nein! Die Schwarzen haben mich von der Tragödie in Kenntnis gesetzt …«
    Es war ihr entfallen, daß die Eingeborenen einander alle Neuigkeiten mittels des Tamtams mitteilen, die sich auf diesem Wege viel schneller verbreiten als durch die Telegrafie.
    »Jetzt geht mir ein Licht auf!«
    »Wieso?«
    »Nein, nichts …«
    Endlich begriff sie den Sinn des Wortes, das Macassis ihr zugerufen hatte, als er sie mit dem Auto überholte.
    Glücklich?
    Er war der Meinung gewesen, daß sie schon Bescheid wußte! Er hatte ja die andere, die große Neuigkeit, nämlich die Heimkehr Ferdinands, durch die Tamtams der Schwarzen erfahren!
    Sie mußte sich setzen, lächelte, als müßte sie sich bei ihm entschuldigen.
    »Bist du müde?« fragte er.
    »Das spielt jetzt keine Rolle mehr … Du …«
    Sie stockte, dann sagte sie es doch:
    »Bist du mir böse?«
    Sie wußte nicht so recht, weshalb er ihr böse sein sollte. Weil sie hier war … Wegen allem …
    »Das Flugzeug hatte eine Panne«, sagte er.
    Das entsprach der Wahrheit. Zwischen Juba und Malakal war ein Motor ausgefallen, was seine Rückkehr um einen Tag verzögert hatte. Aber er sagte das so, als ob diese Panne seine dreiwöchige Abwesenheit erklären könnte.
    Wie immer trat Camille, ohne anzuklopfen, ein. Als sei nichts vorgefallen, meldete er:
    »Ich habe vierzig Mann auf Posten 3 eingesetzt. Einer der Männer mußte in die Krankenstation gebracht werden. Es handelt sich um den alten Mali …«
    Jeder überbot den anderen an Vorsicht, denn die drei Menschen spürten, daß ihr Lebensglück an einem dünnen Faden hing. Jetzt kam es darauf an, daß keiner eine falsche Bewegung machte, daß sie nur selbstverständliche, alltägliche Dinge sagten, jede Angst aus ihren Blicken verbannten.
    Emilienne bemerkte, daß Ferdinand abgemagert war. Während des Abendessens, das Baligis Mutter auftrug, da das junge Mädchen krank war, fragte sie sich einen Augenblick, welche Veränderung mit Ferdinand vor sich gegangen war, doch als sie seine Brille neben seinem Teller auf dem Tischtuch liegen sah, wußte sie, woran es lag.
    »Camille hat mir die Verträge gezeigt, die von Brüssel gekommen sind … Ausgezeichnet … Und was die Krankenstation betrifft, sie ist

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