Der Zwerg reinigt den Kittel
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Sie nehmen dir alles, wenn es so weit ist. Alles, was du noch hast. Den Wohnungsschlüssel, die Möbel, die Gummipalme. Sie nehmen dir das Recht, aufzuwachen, wann du willst, und einzuschlafen, wann du willst. Das Recht, keine Schonkost zu essen, keine Vitamintabletten zu schlucken und so viele Schlaftabletten, wie du willst.
Das Recht, einsam zu sein.
Und wenn sie dir alles genommen haben, dann geben sie dir einen Biographiebogen. Das ist ihr erstes Geschenk an dich, es werden noch andere kommen, zum Beispiel die Liste mit dem Freizeitangebot oder der Fragebogen über deine Erfahrungen beim letzten Gedächtnistraining, aber der Biographiebogen ist das erste.
Er ist ein Geschenk, also sei nicht undankbar, bleib locker und hör vor allem auf, so zu tun, als sei die Gummipalme echt gewesen und die Einsamkeit gewollt. Als sei dein altes Leben in Ordnung gewesen, bevor sie es dir genommen haben.
Hör auf damit.
Schöne Sache, so ein Biographiebogen. Da steht alles drin, was du früher einmal warst. Berufstätig, aktiv, erfolgreich. Deine Hobbys stehen drin, also die, die du früher einmal hattest. Radfahren, Glasmalerei, Modelleisenbahn. Sie fragen dich, ob du früher eher glücklich warst oder eher unglücklich, ob du chronische Krankheiten hattest, ob du depressiv warst. Sogar nach deiner Lieblingsfarbe fragen sie dich und schreiben Schwarz in die Rubrik und machen einen Verweispfeil zur Rubrik Depression, wo ein fettes X steht.
Wenn du sagst, dass deine Lieblingsfarbe neuerdings Gelb ist, so ein warmes, nahrhaftes Dottergelb, dann interessiert sie das einen ScheiÃdreck.
Du sagst: Ich habe die Glasmalerei aufgegeben und würde jetzt lieber Kampfsport betreiben.
Keine Reaktion.
Du sagst: Ich war früher immer eher unglücklich und würde jetzt lieber glücklich sein, wenn sich das machen lässt.
Keine Reaktion.
Dann fragen sie dich, ob du noch alleine aufs Klo gehen kannst, wie dein Waschwasser temperiert sein soll und ob du für deine Bestattung vorgesorgt hast.
So viel zum Thema Zukunft.
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Irgendwer muss ja schuld sein, die Frage ist nur: Wer.
Es gibt drei Möglichkeiten:
Erstens Karlotta, weil es ihre Idee war.
Zweitens Marlen, weil sie mitgemacht hat.
Drittens Suzanna, weil ihr nichts Besseres eingefallen ist, als die ganze Zeit kichernd danebenzustehen und alle paar Sekunden in die Hände zu klatschen von wegen Weitermachen! Weitermachen! .
Am Ende haben die drei beschlossen, dass ich schuld bin.
Nun gut.
Was sollâs.
Einer muss es ja sein, und zuerst habe ich mich natürlich gewehrt und gesagt, dass es viele Dinge im Leben gibt, die ziemlich erstrebenswert sind, zum Beispiel reich sein oder schön sein, um nur die Klassiker zu nennen, und glücklich sein natürlich, aber schuld sein, das will doch keiner.
Und die Wahrheit ist: Wir sind alle schuld, alle vier, weil wir es gemeinsam getan haben. Wir haben die arme Frau gemeinsam niedergeschlagen und in den Keller geschleppt, und dort haben wir sie gemeinsam stundenlang misshandelt.
Gequält.
Gefoltert.
Schwere Körperverletzung, so nennt man das, und wenn jemand bei einer schweren Körperverletzung nur danebensteht und kichert und klatscht, statt Hilfehilfe! zu schreien oder Polizeipolizei!, dann nennt man das unterlassene Hilfeleistung, und deswegen ist Suzanna auch schuld, obwohl sie nicht geschlagen hat und nicht getreten, nicht gebissen und gekratzt.
Wir waren echt gut in Schwung, aber hallo.
Jetzt sind wir wahrscheinlich schon seit Tagen in den Schlagzeilen, im Fernsehen zeigen sie Bilder von uns, und wer weiÃ, vielleicht ist die arme Frau ja tot mittlerweile. Ihren schweren Verletzungen erlegen, wie man so sagt, und so steht es wahrscheinlich in der Zeitung, so sagt es wahrscheinlich der Fernsehsprecher, wir wissen es nicht.
Wir lesen gerade keine Zeitung.
Wir haben gerade keinen Fernseher.
Wir haben Probleme.
Vielleicht haben wir ja sogar ein bisschen Glück und sie lebt noch, die arme Frau, das wäre ganz gut für uns, weil auf schwere Körperverletzung ohne Todesfolge nicht ganz so viele Jahre stehen wie auf Körperverletzung mit. Aber das ist Spekulation, zurück zu den Fakten.
Problem Nummer eins: Wir sitzen im Gefängnis.
Problem Nummer zwei: Wir sitzen zu Recht.
Problem Nummer drei: Wir haben noch eine Chance.
Das mit der Chance klingt jetzt vielleicht komisch, aber manchmal ist so eine Chance kein Anlass zur Freude und eher eine
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