Wells, ich will dich nicht töten
selbst legte mich selten vor zwei Uhr morgens schlafen, also blieb mir noch genügend Zeit, die Lage zu analysieren.
Über den Handlanger hatte ich schon einmal etwas gelesen. Er war ein ungewöhnlicher Killer aus Macon, Georgia. Dort hatte man jedenfalls das erste und das dritte bekannte Opfer gefunden. Anscheinend reiste er ungefähr alle neun Monate in Georgia umher und brachte jemanden um, und alle Verbrechen passten zu der Tat bei uns: Die Opfer wurden im Innern von Gebäuden getötet, gewöhnlich in ihrem Geschäft oder in ihrer Wohnung, wenn sie allein waren, und dann schnitt der Täter ihnen die Hände und die Zunge ab. Anschließend schleppte er das Opfer nach draußen, jagte ihm Pfähle durch den Rücken und verschwand. Die Fahnder hatten noch keinerlei Hinweise gefunden, wer der Killer war, stellten aber Vermutungen an, indem sie die Verbrechen als solche betrachteten. Zunächst einmal gab es gute Gründe für die Vermutung, es müsse ein Mann sein: Um den Opfern die Hände abzuhacken, die Toten nach draußen zu schleppen und ihnen Pfähle in den Rücken zu treiben, war eine gewisse Körperkraft erforderlich. Außerdem waren sowieso alle Serienkiller Männer. Das waren keine besonders tragfähigen Hinweise, aber das Erstellen eines psychologischen Täterprofils war eher eine Kunst als eine Wissenschaft. Die Ermittler nutzten die vorliegenden Informationen und stießen auf Antworten, die unter den gegebenen Umständen einleuchtend schienen.
Außerdem wussten sie, dass der Täter sehr auf Sauberkeit achtete. Die Tatorte, an denen die Morde tatsächlich stattgefunden hatten, waren immer voller Plastik, darunter Planen, Müllsäcke und sogar Einweg-Regenmäntel. Dieser Killer wollte sich nicht mit Blut besudeln, und die fehlenden Spuren bewiesen, wie gut es ihm gelang, sauber zu bleiben. Diese Neigung zur Reinlichkeit und die Tatsache, dass er Mopps und Besen benutzte, um die Opfer von hinten zu durchbohren, hatten ihm in den Medien den Spitznamen Handlanger eingetragen. Nun ja, dies und die Tatsache, dass er den Opfern die Hände abschnitt.
Ich nahm einen Löffel Müsli. Die Polizei und das FBI fahndeten schon seit Jahren nach dem Handlanger und machten ihre Sache wohl recht gut, doch ich wusste, dass sie ihn nicht fassen konnten, weil sie von falschen Voraussetzungen ausgingen: vor allem davon, dass sie nach einem Menschen suchten. Gleichgültig, was Mom behauptete, er war mit großer Sicherheit ein Dämon und fast ebenso sicher eine Frau, denn schließlich hatte ich mit ihr telefoniert und die Stimme gehört. Das erklärte vieles, was nicht zusammenzupassen schien.
Zuerst einmal die Körperkraft – bisher hatten alle Dämonen verschiedene übernatürliche Kräfte besessen, und so passte es gut ins Bild, dass auch der Handlanger unabhängig vom Geschlecht überdurchschnittlich stark war. Es waren bemerkenswert wenige weibliche Serienkiller bekannt geworden, doch es gab sie durchaus, und daraus schloss ich, dass auch weibliche Dämonen existierten. Warum eigentlich nicht? Sofern sie überhaupt ein Geschlecht besaßen, gab es vermutlich sowohl männliche als auch weibliche Dämonen.
Worauf wiesen die Sauberkeit und das immer gleiche Vorgehen hin? War die Dämonin neurotisch? Oder einfach nur umsichtig? Hatte sie Angst vor Blut? Im Internet hätte ich einige Websites über Täterprofile konsultieren können, doch Moms Computer stand in ihrem Zimmer, und ich wollte derartige Nachforschungen nicht anstellen, wenn sie mir dabei ständig über die Schulter sah. Die Dämonin hinterließ so viele Hinweise. Ich musste nur herausfinden, was diese zu bedeuten hatten: etwa die Frage, warum sie ihre Opfer draußen zur Schau stellte und warum sie ihnen Pfähle in den Rücken stieß. Das waren Botschaften, die sie direkt an uns schickte. Genauer gesagt, sogar direkt an mich, war ich doch derjenige, den sie suchte. Was aber hatte das zu bedeuten? Ich beschäftigte mich schon seit Jahren mit Serienkillern, es war ein Hobby, das an Besessenheit grenzte, doch mein Wissen beschränkte sich größtenteils darauf, wer der jeweilige Killer war, wie er vorgegangen war und so weiter. Ich wusste, warum ein Killer tat, was er eben tat, aber dieses Wissen ergab sich erst nach den Taten. Dagegen hatte ich keine Ahnung, welche Schritte die Polizei unternommen hatte, um alle diese Informationen zu entschlüsseln. Ich musste gründlich nachforschen, und dazu brauchte ich das Internet oder die Bibliothek. Beides blieb mir bis zum
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