Wells, ich will dich nicht töten
Morgen verwehrt.
Ich leerte die Müslischale und blickte auf die Uhr: halb elf. Der Morgen war noch viele Stunden entfernt.
Es gab noch einen anderen Bereich, in dem ich der Polizei gegenüber einen eindeutigen Vorsprung hatte, und in dem Zusammenhang benötigte ich nicht einmal die offiziellen Ermittlungen als Hilfe: die fehlenden Körperteile. Die meisten Serienkiller behielten Erinnerungsstücke an die Morde zurück – manchmal wollten sie die Taten noch einmal durchleben, manchmal aber aßen sie sie einfach nur auf. Bei Dämonen sah die Sache allerdings ganz anders aus. Mr Crowley, der ClaytonKiller, hatte seinen Opfern Körperteile gestohlen, um damit die eigenen hinfälligen Gliedmaßen und Organe zu ersetzen. Der Handlanger – die Handlangerin? – tat es möglicherweise aus dem gleichen Grund oder hatte ähnliche übernatürliche Motive. Was konnte man mit Händen anfangen? Oder mit Zungen? Was repräsentierten sie? Ich starrte meine eigenen Hände an und dachte angestrengt nach. Vielleicht eignete sich die Dämonin die Fingerabdrücke ihrer Opfer oder sogar deren Identität an. Es war schon schwierig genug, das Profil eines menschlichen Mörders zu erstellen, der sich an menschliche Regeln hielt. Bei einem Dämon, der bewusst gegen diese Regeln verstieß, brauchte ich mehr Informationen, ehe ich eine brauchbare Aussage machen konnte. Ich musste den Dämon bei seinen Taten beobachten.
Die beiden Dämonen, denen ich bislang begegnet war, hatten in ihrem Vorgehen wenig Ähnlichkeiten gezeigt. Sie hatten unterschiedliche Taten begangen, ein unterschiedliches Verhalten an den Tag gelegt und verschiedene Beweggründe gehabt – und doch hatten sie auch eine Gemeinsamkeit aufgewiesen. Forman hatte erklärt, Dämonen seien dadurch definiert, dass ihnen etwas fehle: ein Gesicht, ein eigenes Leben, ein Gefühl, eine Identität. Genau wie bei Serienkillern musste ich ihre Handlungsweisen mit den Mängeln in Verbindung bringen, die sie zu jenen machten, die sie waren. Woran also mangelte es Niemand?
Das Telefon klingelte und durchbrach schrill und aufdringlich die Stille. Ich hob ab und warf einen Blick auf die Anzeige: Jensen. Und so ging ich durch den Flur zurück und brachte es Mom, die sich im Bad abschminkte. Wieder klingelte es.
»Officer Jensen«, sagte ich. »Wahrscheinlich hat es mit dem Fall zu tun.« Während ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, nahm Mom den Anruf entgegen.
»Hallo? Oh!« Es klang überrascht. »Hallo, Marci, ich dachte, es sei dein Vater.«
Marci Jensen rief uns an? Marci war mit das heißeste Mädchen der ganzen Schule. Auch mein Freund Max, der mit einem Stuhlbein ausgegangen wäre, wenn es ihn nur eingeladen hätte, war unglücklich in sie verliebt. Ich hatte in meinem ganzen Leben höchstens dreimal mit ihr gesprochen. Warum rief sie uns abends um halb elf Uhr an?
»Kein Problem«, sagte Mom. »Wir sind beide noch wach. Er ist gleich nebenan, ich hole ihn.« Mit einem mütterlichen Lächeln, das mich fast zur Weißglut brachte, kam sie aus dem Bad und reichte mir das Telefon. »Für dich.«
Ich hob den Hörer ans Ohr. »Hallo?«
»Hallo, John, hier ist Marci Jensen.« Es klang … verdammt, ich hatte keine Ahnung, wie es klang. In Gesichtern konnte ich hervorragend lesen, aber mit Stimmen war ich noch nie zurechtgekommen.
»Ja, ich hab’s gesehen.« Dann schwieg ich. Was sollte ich auch sagen?
»Entschuldige, dass ich so spät noch störe, aber ich … na ja, ich wollte eigentlich schon den ganzen Tag anrufen und habe es dann doch nicht getan.«
»Oh.« Was wollte sie bloß von mir?
»Nun ja, ich weiß nicht, ob ich das einfach so sagen darf, aber mein Dad hat mir von dir erzählt. Ich meine, über das, was du getan hast. Dass du alle diese Menschen gerettet hast.«
Um mich zu schützen, hatte die Polizei meine Beteiligung weitgehend verschwiegen. Deshalb war mein Name auch nicht in den Schlagzeilen aufgetaucht. Marcis Dad zählte zu den wenigen Menschen, die die ganze Geschichte kannten. Oder jedenfalls jene Teile der Geschichte, in denen keine Dämonen vorkamen. Er war als erster Beamter vor Ort gewesen, als wir aus Formans Folterhaus im Wald geflohen waren.
»Das war doch nichts weiter«, antwortete ich. »Ich meine, es war schon gut, dass sie alle gerettet wurden, aber im Grunde habe ich nicht viel dazu beigetragen. Oder vielmehr … ich war nicht allein. Brooke war auch da und hat geholfen, die Frauen nach draußen zu bringen.«
»Yeaaaaaah«, machte Marci.
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