Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
nicht immer gewünscht? Jetzt, wo sich dieses Land veränderte, wäre genügend Raum für seine Ideen gewesen. Warum konnte er nicht einfach wieder zurückkommen? Während dieser Zeit hatte sie jeden Tag gewartet, dass er an ihrer Tür klingeln würde.
»It’s been a long, a long time coming, but I know a change gonna come, oh yes it will«.
Die Frauen an der Bar summten die Melodie mit, und plötzlich begann die kleine Barfrau mit tiefer, brüchiger Stimme zu singen: »Then I go to see my brother and I say, brother, help me please. But he winds up knockin’ me back down on my knees«.
»Es gab Zeiten, in denen ich dachte, ich halt’s nicht mehr lange aus, aber ich weiß jetzt, ich kann weitermachen. Es hat lange, lange Zeit gedauert. Aber ich weiß, die Wende kommt.«
Und wie ein Chor antworteten ihr die Frauen auf den Barhockern: »Oh, yes it will!«.
Es war ein Donnerstagabend gewesen. Wladimir schlief schon, und Roswitha stand im Wohnzimmer und bügelte Oskars Hemdchen. Der Kofferfernseher »Junost« lief, den sie sich extraim Sommer gekauft hatten, damit sie die neuesten Meldungen nicht verpassten. Selbst die ungeliebte »Aktuelle Kamera« war plötzlich zu einer interessanten Sendung geworden. Es liefen die Tagesthemen und Hans-Joachim Friedrichs verkündete:
»Dieser 9. November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Die Tore in der Mauer stehen weit offen.«
Roswitha lief mit dem Bügeleisen in der Hand auf den Fernseher zu, wurde aber abrupt gebremst, weil die Schnur noch in der Steckdose steckte. Auf den Fernsehbildern warteten die Menschen vor den Grenzübergängen auf Einlass in die neue Welt.
Roswitha stand mit dem Bügeleisen vor dem Fernseher und hatte Angst, dass sie ein Loch in die Luft brennen würde. Die Kamera blickte in die Gesichter der überforderten Grenzpolizisten. Die Genossen gaben dem Druck nach und öffneten widerstandslos die Tore.
Verstört ging Roswitha zurück zu ihrem Bügelbrett und griff mechanisch zu dem nächsten Hemdchen. Hupende Trabis fuhren über die Grenzübergänge in Richtung Westen und wurden bei ihrer Ankunft bejubelt. Roswitha achtete darauf, dass sie keine Falte in den Stoff bügelte. Leute saßen rittlings auf der Mauer und streckten in Siegerpose die Arme in die Höhe. Andere standen in stiller Umarmung und weinten. Roswitha bügelte, Hemden, Hosen, Schlafanzüge, sogar Oskars Socken, und traute ihren Augen nicht.
Am darauffolgenden Sonnabend fuhren sie zu dritt in einem völlig überfüllten Zug nach Berlin. Sie hatten kaum Platz für den Kinderwagen. Doch niemand meckerte, niemand beschwertesich, auch nicht, als der Zug eine Stunde Verspätung hatte. Es herrschten Fassungslosigkeit und Euphorie.
Als sie damals mit der S-Bahn durch das Niemandsland gefahren war, hatte sie sich den Grenzübertritt als einen pathetischen Akt vorgestellt. Langsam würde sie in die andere Welt schreiten. Doch die Realität war, wie so oft, banal: Zuerst standen sie zwei Stunden an, um einen Stempel zu bekommen, der ihnen erlaubte, die Grenze zu passieren. Dann drängelten sie sich mit Tausenden durch den Grenzübergang, um danach gleich wieder mehrere Stunden an einer Bank nach dem Begrüßungsgeld anzustehen. Die Ausgabe wurde mit einem Stempel im Personalausweis vermerkt.
Sie liefen durch die Westberliner Straßen wie durch eine Installation. Die Häuser waren im Baustil der Fünfzigerjahre, auf einem Plakat warb der ehemalige Ostberliner Manfred Krug für »Schultheiß Bier«. Es gab Parkverbotsschilder, Hundehaufen, beschmierte Wände. Das sollte der goldene Westen sein? Doch dann kamen sie an den Auslagen eines Gemüseladens vorüber. Staunend blieben sie stehen. Die Äpfel glänzten wie glasiert. Ordentlich, in Reihen ausgerichtet, lagen Apfelsinen, Mandarinen, Bananen, und obwohl es bereits November war, türmten sich weiße und blaue Weintrauben. »Pflaume haben!«, rief Oskar und griff nach einer blauen Weintraube. Roswitha zog seine Hand zurück, aber sofort kam eine freundliche Verkäuferin und schenkte Oskar eine Tüte voll Weintrauben. Das war wirklich der Westen! Die Trauben hingen tief.
Sie hatten noch Zeit, bis der Zug zurückfuhr, und gingen mit Oskar spazieren. Sie liefen auf der Westberliner Seite an der Mauerentlang und betrachteten die Graffitis. Schon zwei Tage nach Grenzöffnung erschien es surreal, dass auf der einen Seite des Betonwalls schwer bewaffnete Volksarmisten standen,
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