Wenn Es Dunkel Wird
denke an die Familie von Claas. Wie oft bin ich nach der Schule zu Carolin zum Hausaufgabenmachen gegangen. Ich glaube, seit der siebten Klasse. Bei Claas und seiner Familie drehte sich immer alles ums Geld. Ob die Kreditkartenrechnung fällig wurde, Telefon, Strom, Kabelfernsehen bezahlt werden mussten, die Rezeptgebühr beim Arzt waren Diskussionsgrund, das Benzin fürs Auto, die Miete … von neuen Klamotten gar nicht zu reden.
Sein Vater arbeitete in der Stadtverwaltung und verdiente nicht das große Geld und seine Mutter hatte eine Halbtagsstelle als Sprechstundenhilfe bei einem Hautarzt.
Wie hätte wohl Carolin diese Villa in Les Colonnes gefunden, die zehn Monate im Jahr über leer steht und in deren Wohnzimmer ihre Dreizimmerwohnung reinpassen würde? Claas jedenfalls, daraus machte er kein Geheimnis, hasste seine Eltern für ihre Kleinbürgerlichkeit und dafür, dass sie seiner Meinung nach nicht genug aus ihrem Leben gemacht hatten.
Und hier, in der Villa, mit Julian und Tammy, konnte er endlich jemand anders sein. Auch ich habe geglaubt, hier etwas anderes leben zu können. Und so ist es ja auch gekommen. Nur ist der Traum vom anderen Ich in einen Albtraum umgeschlagen, von einem Moment auf den anderen.
Uns gehört der Sommer, haben wir gedacht. Claas und ich – und Julian und Tammy. Und er wird nie enden, er wird unser ganzes Leben lang dauern, so fühlten wir uns. Aber jener Sommer endete von einer Sekunde auf die andere, noch lange bevor sich die Blätter herbstlich färbten und morgens ein Dunstschleier auf dem aufgewühlten Meer lag.
3
In den Siebzigerjahren ging die Villa samt Inventar in den Besitz eines englischen Schriftstellers über – eine mysteriöse Gestalt, die noch von Bedeutung sein wird –, der plötzlich verschwand. Seine Frau beschloss irgendwann wohl, er sei tot, und verkaufte das Haus an die Wagners. Ich habe mich unzählige Male gefragt, ob alles anders gekommen wäre, wenn wir das mit dem Schriftsteller nicht gewusst hätten. Dann wäre die Villa eine extravagante Ferienvilla gewesen, aber so umgab sie von Anfang an ein düsteres Geheimnis, das eine eigentümliche Anziehung auf uns ausübte.
Als ich wieder zu Hause war und nachts nicht schlafen konnte, stand ich oft auf, ging zum Fenster, starrte auf den dunklen, stummen Wohnblock und den Schuhladen gegenüber und dachte: Wir haben es vermasselt.
Ich versuchte, den Moment zu finden, in dem sich unser Schicksal gegen uns gewendet hat. Vielleicht gab es mehrere Momente, vielleicht hat sich auch gar nichts gewendet, vielleicht war alles von Anfang an, von unserer Geburt an so angelegt. Was, wenn es einfach unser Schicksal war?
Das Leben gibt dir, was du brauchst, hat meine irische Großmutter immer gesagt, wenn ich die Ferien über bei ihr war und sie mir das Kartenlegen beibrachte.
Wie in einer ewigen Bildschleife haben sich seit unserer Rückkehr immer wieder die Erinnerungen an die Tage in Frankreich in meinem Kopf abgespult – und irgendwann fing ich an, mir auch die Tage vorzustellen, bevor Claas und ich in der Villa eintrafen:
Die erste Woche hatten Julian und Tammy die Villa für sich.
Julian liegt auf dem Rücken, hat die Arme seitlich ausgestreckt und klatscht von Zeit zu Zeit mit den Handflächen auf das glitzernde Wasser des Swimmingpools. Sein Handgelenk fühlt sich ungewohnt leicht an, seitdem er das gelb-grüne geflochtene Freundschaftsarmband abgerissen hat. Heute, vor einer Woche. Aber eigentlich, eigentlich ist es besser so. Gina und er hatten sich nur noch gestritten. Er schiebt die Ray Ban wieder auf die Nase und genießt das sanfte Wogen der Luftmatratze auf dem Wasser. Das Leben kann so einfach sein. Endlich kann er wieder, wenn er zurück in München ist, mit seinen Kumpels ins Sausalitos gehen, trinken, feiern und snowboarden – und mit anderen Mädels flirten. Er streckt den Fuß ein wenig aus und versetzt der Luftmatratze seiner Schwester einen leichten Stoß.
»He!«, protestiert sie, er lacht.
»Mann, du erschreckst mich jedes Mal«, sagt sie verärgert. Tammy sonnt ihren Rücken und hat die Arme unter der Stirn verschränkt.
»Das mach ich nur, damit du dich mal rührst und keinen Sonnenbrand kriegst«, gibt er zurück.
»Krieg ich eh nicht«, murrt sie.
»Sicher?«
Tammy antwortet nicht, dreht ihren Kopf in die andere Richtung und döst wieder ein. Er kennt ihre Träume. Sie ist Model in L. A. und verdient Millionen. Sie strahlt überlebensgroß von Hauswänden und fährt mit ihrem
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