Wenn Es Dunkel Wird
geschehen ist. Aber genau darum geht es doch, oder? Um das Warum, damit man es selbst irgendwie verstehen kann.
Ich fange dann an. Moment, ich hab noch was aufgeschrieben, was ich gern vorlesen würde. Also …
Ich will bei der Wahrheit bleiben, aber wie man ja weiß, sieht Wahrheit oft anders aus, je nachdem, wer und von welcher Seite man sie betrachtet.
Man sollte auch berücksichtigen, dass jeder Mensch dazu tendiert, sich besser darzustellen, als er ist, genauso wie die meisten ihr Fotogesicht aufsetzen, wenn jemand die Kamera draufhält. Ich nehme mich da nicht aus. Aber das betrifft nur Kleinigkeiten.
Im Nachhinein habe ich mir einiges zusammenreimen müssen, von dem ich nichts mitbekommen habe oder von dem ich nichts wissen kann. Aber im Großen und Ganzen ist das hier die Wahrheit. Okay, dann wäre das geklärt.
Ich wollte eigentlich so anfangen: Es war im letzten Sommer in Südfrankeich … – aber dann hat sich immer eine andere Szene davorgeschoben und deshalb fange ich jetzt damit an. Außerdem kannst du ja das Video auch wieder zurückspulen, wenn was unklar ist.
Gut.
Also, jetzt fang ich wirklich an.
Er war seit zwei Wochen tot, als ich ihn zum ersten Mal in der U-Bahn sah. Er hat nichts zu mir gesagt, hat nur immer wieder zu mir rübergesehen. Du spinnst, hab ich mir einreden wollen, der Typ sieht ihm nur ähnlich. Es regnete an diesem Tag und er trug ein Regencape, ein schwarzes, und er hatte die Kapuze über den Kopf gestülpt. Er sah genauso aus – wie damals.
Ich hab mich an der Stange festgeklammert, als wäre es meine letzte Verbindung zur Realität. Ich hab ihn wie paralysiert angesehen. Mel, du bildest dir das ein, hat meine innere Stimme versucht, mir einzureden. Aber ich hab nicht wegsehen können und gemerkt, dass ich angefangen habe zu zittern. Und er? Er machte nur eine kleine Bewegung mit dem Kinn in meine Richtung, als wollte er sagen: Guck ruhig richtig hin, denn ich bin’s wirklich! Ich bin zusammengezuckt. Und als dann die U-Bahn hielt, drängten Menschen raus und rein und er verschwand irgendwo in der Menge.
Wie lange habe ich ihn angestarrt? Eine Minute? Zwei oder drei? So lange wie die Fahrt von der Giselastraße bis zur Münchner Freiheit dauert.
Danach ist es immer wieder passiert. Mal beim Einkaufen, mal im Theatiner-Café, da sah ich ihn zu den Toiletten gehen, mal auf der Fahrt in die Schule – manchmal blitzte auch nur für eine Sekunde sein Gesicht irgendwo zwischen anderen auf.
Ich werde verrückt, dachte ich. Und das Schlimmste war, dass ich niemandem davon erzählen konnte. Nur Claas, aber er war keine wirkliche Hilfe.
Und dann, nach einem halben Jahr, im Februar kurz nach Fasching, hab ich diese Mail gekriegt, die alles wieder aufgewühlt hat.
Carolin – das ist Claas’ Schwester und sie war mal meine Freundin, aber seitdem das alles passiert ist, hab ich mich von ihr distanziert –, also, Carolin hat mitbekommen, wie ich mein iPhone in der Pause gecheckt habe. Sie hat mich entsetzt angesehen. »Mel! Was ist? Ist jemand gestorben? Du bist ja ganz weiß im Gesicht!«
War ich auch, mir wäre beinahe das Telefon aus der Hand gefallen. So hastig hab ich die Nachricht weggedrückt.
»Ach, meine Mutter stresst mal wieder, was soll ich dir erzählen …«
»Was du mir erzählen sollst?«, hat sie spitz gesagt. »Du erzählst mir sowieso kaum noch was.«
Ich hätte ihr so gern alles gesagt. Aber wir hatten uns geschworen, niemandem unser Geheimnis zu verraten. Ganz schön perfide Sache, oder?
Kannst du dir vorstellen, wie oft ich im letzten Jahr schon im Traum diese Verhöre durchgestanden habe? Fünfhundert Mal?
Es ist immer dieselbe Szene: Ich sitze in einem beklemmenden Raum mit rohen Betonwänden, es ist so eng, dass nur zwei Stühle und ein quadratischer Tisch darin Platz haben. An der einen Wand ist eine dunkle Scheibe und ich fühle mich wie eine Laborratte. Der Polizist, der mich verhört, ist Yannis – auf ihn komme ich später noch zu sprechen. Sein pechschwarzes Haar liegt an seinem Kopf an wie ein kurz geschorenes Fell, seine Koteletten und sein Kinnbärtchen sind scharf rasiert. Er ist ganz in Schwarz gekleidet, hat einen Klumpfuß und kann hinten unter seinem Jackett nicht ganz den Teufelsschweif verstecken. Er stellt mir immer wieder dieselben Fragen:
»Wie heißt du?«
Ich antworte: »Melody Krimmel.«
»Ein komischer Name.«
»Ich heiße Melody nach meiner Großmutter mütterlicherseits. Sie ist Irin und heißt Melody O’Shea.
Weitere Kostenlose Bücher