Wer hat Angst vor Beowulf?
Schachtverstrebungen abgestützt war. Zuerst hab ich gedacht, daß es sich um einen Schützengraben oder irgendein anderes Überbleibsel aus dem Krieg handelte, aber die Männer haben alle gesagt: ›Nein, wir wetten zehn zu eins, daß es ein Wikingergrab ist!‹«
»Ach, die haben das gesagt?«
»Immerhin arbeiten diese Männer den Sommer über fürs Fremdenverkehrsamt. Also haben wir das Loch mit einer Plane abgedeckt und dann Ihrer Bagage Bescheid gegeben.«
»Wollten Sie denn nicht selbst nachsehen?«
Der Ingenieur lachte. »Sie machen Scherze. Schließlich hätte die Decke einstürzen oder sonst was passieren können. Außerdem ist es doch so, daß man nichts berühren darf, bevor die Spezialisten eingetroffen sind, stimmt’s? Oder verwechsle ich das jetzt mit Mordfallen?«
Die Archäologin lächelte. »Sie haben sich völlig richtig verhalten.«
»Die Männer werden stundenweise bezahlt«, fuhr der Ingenieur fort, »und dafür, daß ich in dieser Wildnis arbeite, erhalte ich sogar eine Sonderzulage. Falls sich nun herausstellen sollte, daß es sich dabei tatsächlich um irgendein altertümliches Grabmal handelt, wird das Projekt zwar eingestellt, aber wir können alle mit einem satten Ausfallsgeld in der Tasche nach Hause fahren. Sehen Sie, da drüben ist es.«
Er verließ mit dem Wagen die befestigte Straße und fuhr über den holprigen Boden querfeldein bis zu der betreffenden Stelle. Die Archäologin sah sich einem langen blattförmigen Grabhügel gegenüber, ungefähr fünfzig bis sechzig Meter lang und genau nach Norden ausgerichtet. Trotz ihrer Wollmütze stellten sich ihr die Haare darunter zu Berge, und sie lief unversehens los, wobei ihre Moonboots auf dem wasserdurchtränkten Torf glucksten. Allein die Größe des Hügels ließ ihr Herz höher schlagen. Falls wirklich ein Schiff da unten lag – und sei es auch nur ein Rest davon –, würde es die Mary Rose zu einem Tretboot degradieren.
Die Männer des Vermessungsteams starrten sie über ihre Bierdosen hinweg an, aber sie nahm keine Notiz davon. Während sie mit einigen widerspenstigen Seilen kämpfte, mit denen die Plane befestigt worden war, stand ein alter Mann hastig auf. Er trug einen hautengen Regenmantel, in dem sein ganzer Körper wie in einer Wurstpelle steckte, und winkte ihr mit den Armen zu. Zu ihrer Freude bemerkte die Archäologin, daß er ein Highlander war, der ihr in gebrochenem Englisch zu sagen versuchte, sie dürfe den Grabhügel auf keinen Fall öffnen. Sie strahlte ihn an (bestimmt steckte noch ein Rest der Angst seiner Vorfahren in ihm, die Schlafenden unter dem Hügel aufzuwecken) und fragte: »Wie bitte?« Ihre Freude wurde allerdings etwas geschmälert, als der Ingenieur erklärte, der alte Hohlkopf habe ihre lediglich sagen wollen, daß er den halben Vormittag damit verbracht habe, die Plane mitten in einem Regensturm festzunageln, und falls sie nun darauf bestehe, diese abzunehmen, könne sie das Ding später gefälligst selbst wieder festmachen.
Die Plane wurde zurückgeschlagen, und die Archäologin nahm ihren ganzen Mut zusammen, um hineinzusehen und ihr Schicksal zu suchen. Sie hatte schon immer das Gefühl gehabt, eines Tags eine große Entdeckung zu machen, etwas, das ihr einen Platz neben Carnavon, Carter, Evans und Schliemann in der Ahnengalerie unsterblicher Altertumsforscher sichern werde. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen die Archäologie die Herrschaft über ihre Phantasie verloren hatte – zum Beispiel nach einem scheinbar endlosen Nachmittag, den sie bis zu den Knien im Schlamm in irgendeinem jämmerlichen Hüttenkreis des Dartmoors verbracht hatte –, war ihr einziger Trost gewesen, eine unsterbliche Zeile zu ersinnen, eine Zeile, an die man sich neben dem Satz ›Ich schaute in das Antlitz Agamemnons‹ stets erinnern würde. Obwohl es ihr im Laufe ihrer Karriere noch nie gelungen war, etwas Prestigeträchtigeres als eine Gürtelschnalle aus der Tudorzeit zu finden – abgesehen von genügend Scherben, um sämtliche Blumentopfböden der Welt zu rekonstruieren –, war sie sich sicher, daß sie, Hildy Frederiksen, eines Tags dieser Ahnengalerie angehören werde. Jener auserwählten Gruppe unsterblicher Archäologen also, die das Glück gehabt hatten, die ersten Männer und Frauen der Neuzeit zu sein, die einen Blick auf die Erbstücke der menschlichen Rasse hatten werfen dürfen. Sie kniete nieder und überprüfte mit zitternden Fingern den Inhalt ihrer Ausrüstungstasche: Fotoapparat
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