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Wer hat Angst vor Beowulf?

Wer hat Angst vor Beowulf?

Titel: Wer hat Angst vor Beowulf? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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(mit eingelegtem Film), Notizblock, Bleistift, kleiner Pinsel, Taschenlampe (gratis, für zehn ESSO-Gutscheine) und kleine Plastikbeutel für Proben.
    Was sie schließlich tatsächlich sagte, als der Lichtstrahl ihrer Taschenlampe über den Inhalt des Grabhügels strich, waren die Worte: »Du meine Güte!« Aber unter diesem Umständen konnte ihr das niemand verübeln. Denn was sie da sah, war der Bug eines Schiffs – ein langes Klinkerboot, von einmaliger und unverkennbarer Bauweise. Die Planken waren kohlschwarz und glitzerten vor Feuchtigkeit, aber das Ding schien tatsächlich unbeschädigt zu sein. Während ihr das Blut in den Ohren sauste, dankte sie Gott für die konservierenden Kräfte der Gallussäure des Torfmoors, holte tief Luft und stürzte sich wie ein kleiner dressierter Terrier in das Loch.
    Die Grabkammer war unversehrt; und zwar derart unversehrt, daß Hildy Frederiksen die Möglichkeit eines Einsturzes überhaupt nicht in den Sinn kam. Die Seiten waren durch massive Balken abgestützt – vermutlich Eichenholz –, die sich hoch über ihr zusammenwölbten, wobei die Grabkammer bis in eine beträchtliche Tiefe gegraben worden war. Der Boden unter ihren Füßen war hart, als wäre er zu einem Dielenboden flachgetrampelt worden. Das Schiff selbst ruhte bequem auf einem stabilen Holzgerüst, als nähme es bereits seinen rechtmäßigen Platz in einer eigens für diesen Zweck erbauten Galerie im Schiffahrtsmuseum von Greenwich ein. Es war unbeschreiblich schön, mit einer gestalterischen Perfektion, wie sie nur bei Dingen vorkommt, die unter rein formalen Gesichtspunkten geschaffen worden sind – schlank, anmutig und ungeheuer bedrohlich, fast wie ein menschenfressender Schwan. Jedes einzelne Merkmal, das man bei einem archetypischen Wikingerschiff vorzufinden hoffen konnte, war vorhanden. Dies allein war schon bemerkenswert, zumal keins der bisher entdeckten Schiffe auch nur im geringsten den authentischen Rekonstruktionen im Journal skandinavischer Studien glich – von den bemalten Schilden neben jeder der dreißig Ruderöffnungen an beiden Seiten des Boots bis zu dem großen Drachenkopf am Bug, tief geschnitzt und mit einem vertrauten Muster aus bedrohlichen Tieren und ineinander verschlungenen Schlangen versehen. Obwohl es streng gegen die Regeln war, konnte sie es doch nicht lassen, die Hand auszustrecken – was entfernt an Adam erinnerte, der nach dem verbotenen Apfel greift – und mit der Spitze des linken Zeigefingers über die Linien dieses surrealistisch anmutenden Musters zu fahren.
    Wie ein Kind, das aufgewacht ist und sich unerklärlicherweise in einem Süßigkeitenladen wiederfindet, ging sie langsam um das große Schiff herum und notierte die verschiedenen Merkmale wie bei einer Inventur. Plötzlich wurde das Licht ihrer Taschenlampe von etwas golden Glänzendem zurückgeworfen: eingelegten Runen, die vom Bug nach hinten verliefen und hell wie Neonlicht schienen. Wie ein Kind, das sein Alphabet lernt, entzifferte sie die Runen Buchstabe für Buchstabe – Naglfar, das Schiff der Krallen, die Fähre der Toten. Dieses Langboot war von solch vollendeter Vollkommenheit, daß sie einen Augenblick lang nicht mehr hinsehen mochte, weil sie fürchtete, das Licht der Taschenlampe könnte auf einen am Heck befestigten Außenbordmotor oder auf einen quer am Mast befestigten Werbeslogan für Carlsberg-Bier fallen.
    Sie berührte es noch einmal, und die sich klebrigfeucht anfühlende Gallussäure gab ihr die Sicherheit zurück. Macht aus dem Circus Maximus von mir aus einen Parkplatz, sagte sie sich, wickelt Fisch in die ältesten Papyrusrollen ein, wenn ihr nur dieses Schiff erhaltet! Wie in einem Traum setzte sie den Fuß auf die erste Sprosse einer reichverzierten Leiter, die an der Schiffswand lehnte.
    Am oberen Ende der Leiter schloß eine kleine Plattform an, deren Stufen in den Laderaum hinabführten. Für einen Augenblick stand sie wie gelähmt da, denn der Schiffsbauch war bis oben hin mit den ungewöhnlichsten Dingen angefüllt, und es sah so aus, als veranstalte die Geschichte einen Flohmarkt. Gold und Silber, Stoffe, Rüstungen und Waffen waren wild durcheinandergeworfen, als hätte man es mit den Folgen eines Erdbebens in einem Museum zu tun. Hildy rieb sich die Augen und blickte sich nach allen Seiten um. Unter dem gekappten Mast konnte sie zwölf komplette Rüstungen erkennen, die in gleichermaßen perfekt erhaltenen Pelzumhängen eingehüllt waren. Nein, sie irrte sich. Das waren

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