Wer hat Angst vor Beowulf?
1. Kapitel
Zwischen ›Willkommen in der‹ und ›Grafschaft Caithness‹ hatte jemand ›gottverlassenen‹ auf das Hinweisschild gekritzelt. Als der Vermessungsingenieur diese Korrektur entdeckte, grinste er nur müde.
»Das waren bestimmt Touristen«, stellte die Archäologin in mißbilligendem Ton fest. Sie hatte sich längst entschieden, daß die Highlander, die Bewohner des schottischen Hochlands, bodenständige und aufrichtige Menschen waren; also konnte jede Gehässigkeit gegen sie nur von verständnislosen Außenstehenden herrühren.
»Ich hoffe, nicht«, antwortete der Ingenieur mit einem Gähnen. Dann zündete er sich eine Zigarette an und legte einen anderen Gang ein. »Für mich ist das vielmehr ein Beweis, daß es in dieser Gegend immerhin einen Einheimischen gibt, der lesen und schreiben kann …« Er hielt inne, erwartete ein Lachen oder ein ›Ich weiß schon, was Sie meinen‹ als Antwort, aber vergebens. »Obwohl es hier eigentlich keinen Grund dafür gibt. Schließlich muß man nicht lesen können, wenn man seinen Lebensunterhalt durch Raubmord an Durchreisenden bestreitet, was in dieser Gegend übrigens schon immer die Haupteinnahmequelle gewesen ist.«
Die Archäologin schaute beiseite – er legte schon wieder los. Ein unangenehmer Mensch, wie sie fand.
»Das erklärt auch die in diesem Landstrich tief verwurzelte Armut«, fuhr der Ingenieur erbarmungslos fort, »denn bis vor kurzem haben sich immer nur einige wenige Vollidioten hierhergetraut … Das heißt natürlich, bis zu dem Zeitpunkt, seit ganze Busladungen von Touristen herangekarrt werden. Bildungsurlaub für Schlappschwänze. Heutzutage denken die Einheimischen übrigens gar nicht mehr daran, Durchreisende umzubringen – sie verkaufen denen einfach Schlüsseletuis mit Schottenmuster. Und mittlerweile lesen alle die Financial Times, um sich über die Währungsschwankungen auf dem laufenden zu halten.«
Die Archäologin hatte von den Schmähreden ihres Begleiters schon längst die Nase voll, zumal diese bereits begonnen hatten, noch bevor sie mit dem Wagen von Lairg aus gestartet waren. Demonstrativ fächelte sie mit den Händen den Zigarettenrauch zu ihm zurück und unterstrich ihre Meinung, daß alles ganz prächtig sei. »Nach meinem Dafürhalten hat es sich in gewisser Weise auch zum Positiven gewendet und …«
Der Ingenieur gab ein eigenartiges Geräusch von sich und sagte dann: »Hören Sie, ich bin in diesem herrlich beschissenen Caithness geboren und hier sogar aufgewachsen. Und alles, was diese Grafschaft während der letzten tausend Jahre hervorgebracht hat, sind hungernde Menschen.« Zwar hatte er das nur in einem Manifest der schottischen Nationalisten gelesen, es hörte sich aber ganz gescheit an. »Zum Beispiel haben die Bewohner von Rolfsness vor fünf Jahren die staatlichen Wasserwerke offiziell darum gebeten, ihren erbärmlichen Landstrich in ein Staubecken zu verwandeln, damit sie entschädigt werden und nach Glasgow ziehen können. Aber selbst dafür ist diese Gegend noch zu öde und einsam. Die Armee wollte sie nicht einmal als Schießplatz nutzen, und die E-Werke sind bis heute kläglich bei dem Versuch gescheitert, Rolfsness überhaupt zu finden.«
Trotz der nur geringen Resonanz kam er allmählich gut in Fahrt, doch gelang es der Archäologin, ihn noch rechtzeitig zu bremsen.
»Ach, da fällt mir ein«, sagte sie, wobei sie sich von dem atemberaubend schönen Anblick der wolkenverhangenen Berge losreißen mußte, »daß ich Sie, zumal Sie hier geboren sind, unbedingt noch fragen wollte, ob es über Rolfsness irgendwelche alte Sagen oder traditionelle Überlieferungen gibt.«
»Alte Sagen? Traditionelle Überlieferungen …?« Der Ingenieur runzelte die Stirn, als dächte er angestrengt nach. »Nun, bei den Schäfern und Kleinpächtern gibt es so einen althergebrachten Aberglauben, daß … Ach, Sie wissen ja, wie solche Leute sind.«
»Erzählen Sie weiter!« bedrängte ihn die Archäologin und geriet fast außer sich vor Entzücken.
»Nun, es heißt, daß an jedem Jahrestag der Schlacht von Culloden … Haben Sie von dieser Schlacht schon mal was gehört?«
»Ja, ja, natürlich …«
»Es heißt, daß jedes Jahr – etwa gegen Mittag – der Bus von Wick nach Melvich hier für exakt drei Minuten anhält, genau dort, wo früher einmal der alte Galgen gestanden hat. Unglaublich, nicht wahr? Aber bislang hat noch niemand beweisen können, den Bus jemals mit eigenen Augen gesehen zu haben
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