Wieviele Farben hat die Sehnsucht
stemmte sich mit seiner ganzen Kraft gegen einen Flügel des Tores. Verblüfft bemerkten die Schaulustigen, wie der Torflügel leicht und geräuschlos nach innen aufschwang.
Ohne Zögern betrat das Kind den Palast. Der Sultan und die Wesire starrten sich fassungslos an, sanken langsam in den Wüstensand und stellten fest, wie grenzenlos Beschränktheit doch sein kann - und wie oft doch verschlossene Türen nur in einem selber sind.
Bert Losse
Der kleine Weg zum Frieden
E ines Tages beschlossen drei, die sich mehr Gedanken als andere machten, die Welt zu verbessern.
Der erste ging zu den Völkern im Osten und Westen, sprach auf Versammlungen und großen Plätzen über Frieden und Verständigung. Und siehe da: Die Völker im Osten spendeten Beifall, und die Völker im Westen spendeten Beifall — die einen so laut wie die anderen.
Doch eine Woche später kam ein Fremder zu den Völkern im Osten und Westen und sprach auf Versammlungen und großen Plätzen von Bedrohung und von Pflichten gegenüber dem Vaterland. Und siehe da: Die Völker im Osten spendeten Beifall, und die Völker im Westen spendeten Beifall — die einen so laut wie die anderen.
Der zweite sammelte Geld. In allen großen und kleinen Städten sammelte er wochenlang, monatelang, jahrelang — bis er einen riesigen Betrag zusammen hatte, den er zu verschenken gedachte. Und er teilte auf: Fin Viertel für die Kirche; ein Viertel für ein Land, das Hunger litt; ein Viertel für die kranke Frau, die er im Treppenhaus getroffen hatte; ein Viertel für Menschen, die Bäume, Wiesen und Tiere zu schützen versuchten.
Die Kirche freute sich über das Geld und bekehrte damit Ungläubige. Das Land, das Hunger litt, freute sich über das Geld, besonders sein Präsident, und ganz besonders dessen Frau. Die kranke Frau aus dem Treppenhaus freute sich auch über das Geld und konnte endlich die teure Behandlung bezahlen. Leider war es schon zu spät. Und die Menschen, die Bäume, Wiesen und Tiere zu schützen versuchten, freuten sich ebenfalls über das Geld. Sie konnten damit Millionen von Papieren bedrucken und verteilen, in denen sie alle Bürger des Landes aufforderten, Bäume, Wiesen und Tiere zu schützen. „Recht haben sie, diese Leute“, meinte jemand, verwöhnte seinen Dackel und mähte den Rasen.
Der dritte ging in den nahen Park und setzte sich dort auf eine Bank.
„He, du?“ sagte ein kleiner Mensch von fünf Jahren und kletterte neben ihn.
„Guten Tag“, sagte der dritte.
„Das ist meine Bank!“ sagte der kleine Mensch.
„Hmm“, sagte der dritte und kramte verlegen in seinen Hosentaschen. Zwei vergammelte Bonbons kamen zum Vorschein. „Kannst ja eins haben.“
„Joooh.“
Der dritte und der kleine Mensch betrachteten angestrengt ihre Schuhe.
Der kleine Mensch malte mit seinen Zehen Kreise in die Luft: „Kannst auch ein Stück von meiner Bank haben.“
Schweigend saßen sie dann lange Zeit nebeneinander und lutschten leise an ihren Bonbons herum.
Autoren- und Quellenverzeichnis
Heinz Körner (Herausgeber)
Jahrgang 1947, lebt im Remstal bei Stuttgart. Bisherige Veröffentlichungen: JOHANNES (1978); EIFERSUCHT (hrsg. 1979); HEROIN (hrsg. 1980); EIN MÄRCHEN (1981); DIE FARBEN DER WIRKLICHKEIT (hrsg. 1983); MÄNNERTRAUM/A (hrsg. 1984).
Roland Kühler (Herausgeber)
Jahrgang 1953, lebt im Remstal bei Stuttgart. Gemeinsam mit Heinz Körner hat er den ersten Band dieser Märchen für Erwachsene DIE FARBEN DER WIRKLICHKEIT (1983) veröffentlicht und die Anthologie M ÄNNERTRAUM/A (1984) herausgegeben.
Manfred Eichhorn
1951 in Ulm geboren, lebt auch heute noch dort als Buchhändler und Autor. Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände (der neueste erschien 1985 unter dem Titel ALLES IST ANDERS) und einen Kurzroman. An vielen Anthologien, Kinderjahrbüchern und Lesebüchern hat er mitgearbeitet und außerdem selbst zwei Anthologien herausgegeben.
Wolfram Eicke
geboren 1955, arbeitete nach einer journalistischen Ausbildung drei Jahre lang bei der BBC in London, danach beim Funk in Berlin, Baden-Baden und Hamburg. Seit 1984 lebt er als freier Schriftsteller in Lübeck.
Bert Losse
Jahrgang 1965, Abitur, Zivildienst bei der Johanniter-Unfall-Hilfe. Er lebt in Blecher bei Leverkusen und möchte gerne Journalist werden. Sein Märchen entstand nach einem persönlichen Erlebnis.
Pet Partisch
Jahrgang 1924, lebt in Nahe bei Segeberg. Dort wurde sie 1981 auch Mitbegründerin eines kleinen
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