Wieviele Farben hat die Sehnsucht
besaß er alles, was er sich nur vorstellen konnte. Dieser Herrscher hatte eine wunderschöne Tochter, die er über alles liebte. Als sie zu einer jungen Frau herangewachsen war, schenkte er ihr eine kleine Oase in der Wüste und errichtete ihr dort ein prächtiges Schlößchen. Seine Tochter sollte sich in dieser Oase erholen können, und außerdem war sie dort sicher vor den jungen Edelmännern und Grafen, die sie umschwärmten wie Fliegen den Honigtopf. Als der Vater mit seiner Tochter und viel Gefolge zum ersten Mal zu der kleinen Oase ritt, erlebte er jedoch eine böse Überraschung. Die Prinzessin war nämlich von ihrem Schlößchen und der ganzen Oase so begeistert, daß sie unter keinen Umständen wieder in die Stadt wollte. Ihr Vater bat, flehte und befahl — doch seine Tochter stellte sich mit dem Gesicht zur Wand und ließ sich nicht umstimmen. Sie wollte nicht mehr zurück in die Hauptstadt des Reiches, und sie wollte auch nicht, daß irgend jemand aus der Stadt sie besuchen käme. Nicht einmal ihrem Vater wollte sie dieses Recht einräumen. Niedergeschlagen und traurig kehrte der Herrscher in die Stadt zurück. Seine Berater beruhigten ihn: „Du wirst sehen, mächtiger Herrscher, deine Tochter wird der Einsamkeit sehr schnell überdrüssig. Schon bald wird sie sich zurücksehnen in die Stadt.“ Der Herrscher vertraute den Beratern und hoffte auf die Zeit. Aber die Jahre vergingen und verrannen wie das Wasser einer ungefaßten Quelle im heißen Wüstensand.
Eines Tages beschloß der mächtige Herrscher, bei der Oase seiner Tochter ein großes Fest zu veranstalten. Er wollte noch einmal versuchen, sie davon zu überzeugen, wieviel besser doch das Leben in der Hauptstadt des Reiches und vor allem an seiner Seite sei.
Mit äußerster Sorgfalt wurde das Fest geplant und vorbereitet. Endlich nahte die festgelegte Zeit und der Herrscher, der gesamte Hofstaat und viele, viele Menschen mit ihnen zogen hinaus vor die kleine Oase. Dort schlugen sie ihre Zelte auf, schlachteten Hammel und Hühner und bereiteten am ersten Abend ein großes Festmahl. Der kommende Morgen wurde mit Spannung erwartet, denn es sollte ein Redner auftreten, dessen Überzeugungskunst und Argumentation sogar wilde Wüstenlöwen zu sanften Hauskatzen werden ließ. Am Morgen, gerade als die Sonne den Sand zu erwärmen begann, kletterte der Redner auf ein vorbereitetes Podest und hielt mit kraftvoller Stimme seinen Vortrag. Die vielen Zuhörer waren hingerissen — war ihnen doch bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewußt gewesen, wie herrlich das Leben in der Stadt sein konnte. Ergriffen und schweigend lauschten sie und schworen heimlich, niemals auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, von der Stadt wegzuziehen. Nur einige Beduinen saßen im Schatten ihrer Kamele und rissen Witze über die Rede.
Die Tochter des Herrschers, neugierig, was denn alle diese Menschen hier wollten, war am Morgen in die Dachkammer ihres Schlößchens gestiegen, um von dort alles gut beobachten zu können. Auch sie hörte den Redner, und ein wenig Sehnsucht bekam sie schon nach der Stadt. Dann aber blickte sie aus ihrem Fenster über die kleine Oase und fand die Bäume, den kleinen Teich, die Blumen und ihr Haus so schön, daß sie dachte: „Nein, hier kenne ich inzwischen alles. Schöner kann es woanders nicht sein. Weshalb sollte ich von hier Weggehen?“ Dann schloß sie das Fenster und hörte dem Redner nicht mehr zu. Dieser sprach noch stimmgewaltig, bis die Mittagssonne so heiß brannte, daß seine Zunge aufquoll wie ein Hefebrot im Ofen und er schließlich kein Wort mehr herausbrachte.
Der Herrscher war sehr enttäuscht, weil seinem Plan kein Erfolg beschieden war, aber die Berater trösteten ihn: „Morgen wird ein Sänger die Tribüne besteigen, der so flehentlich singen kann, daß selbst jahrtausendealte Steine weinen müssen.“ Der Herrscher schöpfte Hoffnung und schlief beruhigt in seinem Zelt aus Seide und Damast.
Am nächsten Morgen begrüßte der Sänger die Sonne mit seinem Gesang und weckte die Menschen und auch die Tochter des Herrschers. Der Sänger sang so flehentlich, so sehnsuchtsvoll seine Lieder über die Rückkehr in die Hauptstadt, daß viele Menschen unverzüglich ihre Zelte abbrachen, um sofort zurück in die Stadt zu reiten. Die Prinzessin jedoch hörte den Gesang am kleinen Teich ihrer Oase; sie sah, wie sich die Seerosen und ihr eigenes Gesicht im Wasser spiegelten, und dachte: „So schön wie hier kann ich es nirgendwo
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