Wieweitdugehst - Wieweitdugehst
Angst?
Mir stand der Schweiß im Nacken. Warum sollte ich den Abend noch komplizierter machen, als er ohnehin schon war? Ich beobachtete die Leute. Meine Augen schossen Schnappschüsse. Jemand mit einer viel zu großen und augenscheinlich schweren Tasche. Ein Hund, bepackt mit einem komischen Polster auf dem Hintern. Wauwau als Selbstmordattentäter, formulierte ich meine Schlagzeile. Jemand, der in einem hoffnungslos überfüllten Abfalleimer wühlte. Eine Frau mit Kopftuch, die sich zu schnell durch die Menge drängte. Ein Mann, allein unterwegs. Wer ging allein auf die Wiesn? Verstohlen musterte ich Neros Kollegen.
Auch Freiflug hatte keine Freundin. Polizeioberrat Woncka, den das Team für den heutigen Abend begreiflicherweise nicht auf die Wiesn eingeladen hatte, war längst geschieden. Vicky mit ihrem Dirndl konnte ich nicht einordnen, aber ich blieb bei meiner Meinung, dass Nero und ich das einzige Paar waren, das trotz der unsäglichen Arbeitszeiten des LKA-Teams noch zusammenhielt.
Zusammenhalten, ja, so konnte man das nennen.
Ich war verunsichert. Irgendetwas war in meinem Leben dabei, sich zu regen. Wind of Change. Als verschöben sich tektonische Platten, ab und an gab es ein Erdbeben, nichts Schlimmes, nur eben Bewegung. Kleine Vulkane spien ein wenig Rauch aus. Dinge, Ereignisse, Gefühle, die ich unter den Teppich kehren konnte. Noch.
Mein Job als Ghostwriterin gefiel mir. Ich tauchte gern in fremde Leben ein, ich brauchte das Schreiben, ich liebte Texte. Außerdem stand mir das Freiberuflertum gut. Ich konnte meine Arbeitszeiten selbst einteilen, hatte keinen Polizeioberrat, der mir dazwischenfunkte und mir Vorschriften machte. In meinem Beruf gab es außer Diskretion überhaupt keine Vorschriften. Ghostwriter durften alles. Lügen, beschönigen, weglassen, hinzudichten, wenn der Kunde es wünschte. Die Hauptsache war, dass nachher ein Buch auf dem Tisch lag und mein Konto einen Zahlungseingang verbuchte. Meine Einnahmen hatten in diesem Jahr schon im August das Gesamtergebnis des vergangenen Jahres überflügelt. Also lag auch finanziell alles im grünen Bereich. Deshalb gönnte ich mir gerade eine Auszeit.
Wenn aber beruflich nichts zu beanstanden schien, musste der Druck, der sich in meinem Leben aufbaute, aus dem Privaten stammen. Nero?, dachte ich und sah ihn von der Seite an, während wir uns durch das Gedränge schoben. Sein Arm hatte mich fest im Griff, er war groß, stark, selbstsicher, ein Beschützer, ich mochte den italienischen Bart, die braunen Augen, ich mochte alles an ihm. Wir kannten uns nun schon eine geraume Weile, knappe zwei Jahre. Hatten Zeit für die Liebe gehabt. Nur stand da ein großes Aber zwischen uns, das ich nicht zu deuten vermochte.
Nero war ein Pedant. Er hatte strenge Anforderungen an sich selbst. Er salutierte jeden Morgen vor seinen Pflichten. Wenn ich mal einen Tag blaumachte, warf er mir vor, dem Herrgott den Tag zu stehlen. In seiner ganzen Art signalisierte er, dass Müßiggang aller Laster Anfang sei. Er verstand nicht, dass Ghostwriting eine kreative, künstlerische Tätigkeit war, die von Pausen lebte. Ich brauchte leere Stunden, um weiterzudenken, eine Geschichte, ein Leben auszuschmücken. Wenn ich schrieb, war ich ein spielendes Kind.
Unsere Berufe waren zu verschieden.
Oder war es noch etwas anderes?
»Die Untersuchungen zum Oktoberfestattentat sind nie abgeschlossen worden«, rief Kröger durch das Gedränge. Seine Hand hielt Vickys Ellenbogen umschlossen, als wollte er sie abführen. »Erst im Mai gab es eine Anfrage der Grünen im Bundestag. Die werfen den Kollegen, die damals ermittelt haben, vor, Hilfsangebote des BKA abgelehnt zu haben.«
»War es nicht so?« Sigrun West hüpfte um einen Dackel herum, der ein weiß-blau gerautetes Trikot trug. »Allerdings sind dann doch BKA-Beamte zur Soko ›Theresienwiese‹ dazugestoßen.«
Kröger warf seiner Kollegin einen wütenden Blick zu.
»Die Sache ist gegessen.«
»Du warst in der Soko, damals, oder, Ulf?«
Mein Herz begann wie wild zu klopfen. Ich bekam Panik. Nicht wegen Kröger und seiner Schuppen, nicht wegen Sigruns immer schriller werdender Stimme. Nein. Ich ertrug die Menschen um mich herum nicht, die Wärme ihrer Körper, die Gerüche: Popcorn, Schweiß, gebrannte Mandeln. Ich hatte genug davon, die Unterwäsche durch die Shirts der Frauen zu sehen und die feuchten Gesichter angetrunkener Männer. Der Japaner mit Gamsbarthut, der neben mir auftauchte wie ein U-Boot, gab mir den
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