Wieweitdugehst - Wieweitdugehst
unsicher zu machen, kam einem Wunder gleich. Die Herrschaften arbeiteten üblicherweise sogar an den Wochenenden. Ich sollte gute Miene zum bitterbösen Spiel machen.
»Das Wiesn-Attentat ist jetzt fast 30 Jahre her«, warf Neros Kollegin, Sigrun West, ein. Sie war die einzige Frau in einem Trupp Männer. Zäh, kompetent, überarbeitet. Mich mochte sie nicht. Klar, ich hatte den bestaussehenden Mann aus ihrem Team geschnappt. Nichts gegen Markus Freiflug mit seiner Nickelbrille und dem Pferdeschwanz. Beides ließ ihn wie einen Linken aussehen, aber in Wirklichkeit vertrat Freiflug konservative bayerische Werte. Daher rührte vermutlich die Beförderung. Mit Bodo Roderick, dem Dritten im Bunde, war auch nicht viel anzufangen: ein blasser, weißblonder Typ mit ausdrucksloser Stimme. Nero hielt viel von ihm, fachlich, verstand sich, aber aufs Fachliche konnte ich für meinen Teil pfeifen. Und dann erst der vierschrötige Ulf Kröger, dem pausenlos die Schuppen auf die Schultern rieselten! Arme Sigrun. Auf große Ausbeute war in diesem Laden nicht zu hoffen.
Zur allgemeinen Überraschung brachte Kröger eine Frau mit. Sie trug ein grellblaues Dirndl, passende Haferlschuhe und eine Gürteltasche um die Hüften, an dem sie mit rotlackierten Fingern nestelte. »Das ist Vicky.«
Nero legte den Arm um mich.
»Wo ging die Bombe damals eigentlich hoch?«, fragte Roderick. »War das nicht irgendwo hier am Haupteingang?«
Das Thema Bombe in Verbindung mit Menschenmengen traf genau meine schwächste Stelle. Gänsehaut lief mir über die Arme. Ich räusperte mich. Nero zog mich etwas fester an sich. Sofort fühlte ich mich beengt. Mein Instinkt meldete Alarmstufe eins.
»An der Brausebadinsel. Eine Rohrbombe«, referierte Sigrun West und boxte sich den Weg frei. »Seht zu, dass wir zusammenbleiben!« Ihre Ohrhänger baumelten wild.
Ich war bei einem Bombenanschlag auf dem Sinai schwer verletzt worden, hätte beinahe nicht überlebt, besaß seitdem eine künstliche Hüfte. Eine Sepsis hatte mich für Wochen niedergestreckt. Definitiv hatte ich keinen Gesprächsbedarf in Sachen Rohrbomben.
»Sie bestand aus einer zuvor geleerten Mörsergranate, die mit 1,39 Kilo TNT neu befüllt und in einen präparierten Feuerlöscher gesteckt wurde«, rief Sigrun uns zu, während sie einem Mann auswich, der mit seiner Zuckerwatte schlenkerte.
»Schon gut«, beschwichtigte Markus Freiflug mit einem Blick auf mich. »Hast dich extra vorbereitet, was?«
Roderick rempelte einen angetrunkenen Mann mit Gesichtstattoo an und sagte: »Mal ehrlich, glaubt ihr, dass die Islamisten das Oktoberfest sprengen?«
Keiner antwortete. Oder ich hörte nichts. Es war zu laut. Schrille Stimmen näselten durch übersteuerte Lautsprecher: ›Kommen Sie, machen Sie Ihre Fahrt, noch ist es Zeit, kaufen Sie Ihr Glück.‹
»… muss man ernst nehmen«, kam es von Freiflug.
»Alle meinen jetzt, es geht um das Oktoberfest«, bestätigte Sigrun. »Aber in Wirklichkeit geht es vermutlich um ein anderes Ziel.«
Verdammt, ich hatte keinen Nerv, mich um Attentatsdrohungen zu kümmern. Dann würde ich vollends durchdrehen und sofort den Rückzug antreten. Ich wollte nicht in der Masse aufgehen. Der Gaudizirkus stieß mich ab. Die Masse schien Schutz zu bieten – und barg doch Gefahr. Begriffen die paar Tausend das nicht, die auf der Wiesn von einer Herde gleichgesinnter Vergnügungssüchtiger geschluckt werden wollten?
Zudem gab es abgesehen vom Oktoberfest eine Menge neuralgischer Punkte auf diesem Globus. Wer garantierte einem, dass die Terrordrohung nicht letztlich nur dafür da war, die Leute fickrig zu machen? Oder die Konzentration der Exekutive auf ein bestimmtes Ziel zu lenken, dann jedoch auf ein ganz anderes, folglich unbewachtes loszugehen?
»Denkt mal«, Roderick spitzte bedeutungsvoll die Lippen, »Terror ist eine sehr nützliche Sache. Jede Seite kann ihn für sich nutzen.«
Knallpeng, das war eine harte Aussage für einen bayerischen Beamten.
»Glauben Sie, unser Bundesinnenminister hat ein paar arabische Studenten dafür bezahlt, ein Video ins Netz zu stellen, in dem Deutschland der Krieg erklärt wird, damit er sich noch mehr Zugriffe auf unsere Privatsphäre erlauben kann?«, fragte ich.
»Kea!«, murmelte Nero.
Aber genau darum ging es, und keiner aus dem LKA-Team, niemand, der mit hörenden Ohren und sehenden Augen durch die Welt ging, konnte diesen Gedanken ausblenden. Wer wurde vor wem geschützt? Wer profitierte am meisten von der
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