Wilder als Hass, süsser als Liebe
Hätten Sie Lust, mir Gesellschaft zu leisten?« Nachdem ROSS genickt hatte, führte Canning ihn durch einen Flur in ein hübsches Büro, dessen Wände mit Bücherregalen gesäumt waren.
»Ich habe ein paar Briefe für Sie, die seit einigen Wochen auf Sie warten.«
»Ursprünglich hatte ich geplant, bereits Anfang Dezember in Konstantinopel einzutreffen«, erklärte ROSS, während er Platz nahm. »Doch dann beschloß ich, ein paar Wochen in Athen zu bleiben. Das ist der Vorteil, wenn man aus reinem Vergnügen reist.«
Canning klingelte nach dem Tee und öffnete dann eine Schublade in seinem Schreibtisch. Nachdem er einen Moment herumgestöbert hatte, zog er einen Stapel Briefe hervor, die mit einem Band zusammengebunden waren. Mit ernster Miene reichte er sie ROSS. »Ich fürchte, einer der Briefe enthält schlechte Nachrichten. Er ist schwarz umrandet.«
Die Worte des Botschafters ließen ROSS’ Plauderlaune schlagartig versiegen. Er nahm das Paket in Empfang und wollte wissen:
»Würden Sie es mir übelnehmen, wenn ich ihn sofort lese?«
»Natürlich nicht.« Canning gab seinem Gast einen Brieföffner und setzte sich dann diskret hinter den Tisch.
ROSS überflog schnell die Briefumschläge, auf denen er unter anderem Saras, Mikhals und die Handschrift seiner Mutter erkannte. Der schwarzgesäumte Umschlag lag zuunterst im Stapel. Er sammelte Kraft, bevor er das Siegel aufbrach. Sein Vater, der Duke of Windermere, war fast achtzig, und obwohl er sich für sein Alter bester Gesundheit erfreute, wäre es nicht überraschend, wenn der Tod ihn gerufen hätte. Falls es so war, so hoffte ROSS nur, daß das Ende schnell gekommen war.
So vorbereitet, den Tod seines Vaters zu akzeptieren, brauchte ROSS eine Weile, um zu begreifen, daß der Brief ihm nicht das mitteilte, was er erwartet hatte. Als er den Inhalt endlich in sich aufgenommen hatte, stieß er den Atem aus, schloß die Augen und rieb sich mit einer Hand die Schläfe, während er darüber nachdachte, wie diese Neuigkeiten sein Leben verändern würde.
Vorsichtig erkundigte sich Canning: »Kann ich etwas für Sie tun, Lord ROSS? Möchten Sie vielleicht einen Brandy?«
ROSS öffnete die Augen. »Nein, danke. Es geht mir gut.«
»Ist es Ihr Vater?« fragte der Botschafter zögernd. »Ich habe den Duke vor einigen Jahren kennengelernt. Eine höchst bemerkenswerte Persönlichkeit.«
»Nein. Nicht mein Vater.« ROSS seufzte. »Mein Bruder
- vielmehr mein Halbbruder -, der Marquess of Kilburn, starb letzten Monat ganz unerwartet.«
»Es tut mir leid. Ich kannte Lord Kilburn nicht, aber für Sie ist es sicher ein großer Verlust.«
»Kein persönlicher Verlust.« ROSS starrte auf den Brief und empfand ein vages Bedauern, daß sein einziger Bruder ihm im Leben und nun im Tod praktisch ein Fremder geblieben war.
»Kilburn war beträchtlich älter als ich, und wir standen uns nicht sehr nah.« Tatsächlich hatten sie kaum ein Wort miteinander gesprochen, und nun, da er tot war, gab es auch keine Möglichkeit mehr, die Kluft jemals zu schließen, die Stolz und Zorn zwischen ihnen aufgerissen hatte. Kilburn hatte die zweite Ehe seines Vaters niemals gebilligt, was sich auch auf das Kind übertragen hatte, das daraus entsprang. Es hatte dem Duke of Windermere sehr viel Kummer bereitet, daß diese Ehe, die ihn selbst so glücklich machte, ihn gleichzeitig von seinem ältesten Sohn und Erben entfremdet hatte.
Der Botschafter musterte ihn plötzlich aufmerksam. »Ich bin mit Ihrer familiären Situation nicht vertraut. Hat Ihr Bruder einen Sohn hinterlassen?«
Genau da lag die Krux in der Sache. »Kilburn hat eine Tochter aus erster Ehe«, antwortete ROSS. »Nachdem seine Frau vor ein paar Jahren gestorben ist, hat er wieder geheiratet, und seine zweite Frau trug ein Kind unter dem Herzen, als ich England verließ. Es ist ein paar Tage nach Kilburns Tod auf die Welt gekommen - und unglücklicherweise ist es wieder ein Mädchen.«
»Also sind Sie jetzt der Marquess of Kilburn«, schloß Canning aus dieser Erklärung. Er räusperte sich. »Sie finden, daß das ein Unglück ist? Verzeihen Sie mir, Lord Kilburn, aber die meisten Menschen wären sicher nicht besonders traurig, ein Herzogtum zu erben. Es ist wohl
kaum Ihr Fehler, daß Ihr Bruder keine Söhne gezeugt hat, die sein Erbe übernehmen können.«
»Ich hatte nie den Ehrgeiz, Duke of Windermere zu werden.«
ROSS versuchte, sich an die Tatsache zu gewöhnen, daß er nun den Titel seines Bruders trug. »Das
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