Wildes Erwachen
Frau erreichte Kral in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock.
»Hallo, Josef, grüß’ dich! Das ist aber eine Überraschung!«
Brückner gab sich ungewohnt einsilbig: Nicht die übliche Frotzelei, keiner seiner typischen Sprüche, nur die knappe Frage: »Hast du morgen gegen Abend Zeit?«
»Worum geht’s denn?«
»Ooch, ich denk’, wir sollten uns mal wieder treffen. Übrigens, Schuster kommt auch.«
Seltsam! Offensichtlich keines dieser berühmten Musikantentreffen in seiner Stammkneipe. Schuster auch? Hat doch irgendwie dienstlichen Charakter! Dann diese Stimme: Ganz und gar ungewöhnlich für den Mann, den sie in Eger »kapitán Švejk« nannten. Aber was soll’s! Man wird sehen!
»Also, ich hab’, glaub’ ich, nichts vor. Wann?«
Mist, wie sollte er nach Wernersreuth kommen? Ist zwar nur einen Katzensprung von Selb. Aber ein Dämmerschoppen mit Brückner ohne Bier und den einen oder anderen Schnaps? Kaum denkbar! Und dann mit dem Auto über die Grenze! Sollte man lieber bleiben lassen! Und Eva würde sich nicht als Fahrerin zur Verfügung stellen. Zu deutlich hatte sie sich damals festgelegt: »Ein Klo, wo gleich nebenan Schweine geschlachtet werden, wo du noch auf dem Donnerbalken sitzt und dir der penetrante Jauchegestank den Atem nimmt, kannst du mir beim besten Willen nicht noch mal zumuten.«
Klar, das mit dem Schlachthaus kombinierte »hajzl« im Hof war noch auf dem Stand der Vorkriegszeit. Aber war es nicht gerade diese Abwesenheit von modernem Schnickschnack, die das Wirtshaus so einmalig machte? Brückner hatte sich eine Stammkneipe ausgesucht, wie sie urdeutscher gar nicht sein konnte: gescheuerte und geölte Bodendielen, dunkle Wandvertäfelung und überall die Attribute der Jagd, von kunstvoll gestalteten Zielscheiben über Rehgeweihe, röhrende Hirsche in Öl bis hin zum präparierten Schädel einer Wildsau. Wo findet man so etwas noch auf deutscher Seite, wo in den Wirtshäusern längst eine Pseudo-Rustikalität Einzug gehalten hat?
Doch es gab ja noch Schuster, der zwar in Hof arbeitete, aber in dem nicht weit von Selb entfernten Städtchen Schönwald wohnte, das viele Selber eher als eingemeindeten Ortsteil sahen.
Die Anfrage war erfolgreich: Schuster würde sich von seiner Frau in die Kneipe bringen lassen. Auch für die Abholung stehe sie zur Verfügung. Und der kleine Umweg über Selb sei doch eine Selbstverständlichkeit. Überraschend kam aber die Begründung für den Fahrdienst seiner Frau: Er wolle schließlich auch das eine oder andere Bier zischen.
Was war denn in Schuster gefahren? Bisher war Bier für ihn doch kaum mehr als ein überflüssiger Kalorienspender, den es im Interesse der drahtigen Figur zu meiden galt.
Auf der Fahrt nach Wernersreuth beschränkte man sich auf einen grenzlandorientierten Smalltalk, also auf jeden Fall auch die Erörterung der Entwicklungen im Nachbarland. Von besonderem Interesse waren dabei natürlich die tschechischen Spritpreise. Die Gesprächsführung lag bei Frau Schuster, ein rundlicher Hausmütterchen-Typ, der gerne lachte und vor Freundlichkeit strotzte. Wenn Kral nicht alles täuschte, redete sie für den Geschmack ihres Gatten einige Takte zu viel.
Das Wirtshaus war spärlich besucht: Am runden Stammtisch saßen vier Tschechen, die direkt von der Arbeit gekommen sein mussten, denn sie trugen noch ihre Blaumänner und die Spuren körperlicher Arbeit waren noch nicht beseitigt. An einem weiteren Tisch war ein deutsches Ehepaar damit beschäftigt, die Spezialität des Hauses, eine »sulc«, zu Deutsch »Sülze«, zu verzehren. Bei Brückner saß Toni, der Wirt, der sich allerdings beim Eintreten der beiden Deutschen erhob und dabei noch zwei leere Schnapsgläser wegräumte.
Die Begrüßung und die dabei verwandten Floskeln machten schnell klar, dass mit Brückner wirklich etwas nicht stimmte. Er wirkte müde und gab sich ziemlich wortkarg, außerdem schien ihm sein Humor abhanden gekommen zu sein. Kral brauchte nicht lange über die Ursachen dieser Formschwäche zu spekulieren, denn der Kapitän kam schnell auf die Ursache seiner Gemütslage zu sprechen: »Ich bin suspendiert. Offiziell bis auf weiteres beurlaubt, nennt es, wie ihr wollt.«
Ratlosigkeit herrschte bei den beiden deutschen Besuchern. Die fällige Frage übernahm Schuster, was ihm aber schwerfiel, denn er wollte den Eindruck vermeiden, er glaube auch nur im Ansatz an ein schuldhaftes Verhalten Brückners. Ein dementsprechendes Geeire war die Folge: »Die
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