Wildes Erwachen
1
In den letzten Traum mischt sich bereits die Wirklichkeit in Form von Geräuschen ein, das Bewusstsein beginnt sich zu orientieren, fragt sich nach dem Gemütszustand, findet zurück in den Kalender, wertet schließlich die Lichtverhältnisse aus, dann der Blick auf den Wecker.
Schon mal positiv: Nichts Belastendes vom Vortag! Außerdem Sonntag! Noch dunkel. Klar, ist ja erst halb sechs. Eigentlich keine Zeit zum Aufwachen, zudem kein Druck auf der Blase! Evas Platz war zwar leer, aber ihr Gang zur Toilette hatte eher selten seinen Schlaf gestört. Richtig! Die Geräusche aus dem Badezimmer, die nicht so recht zur Uhrzeit passen wollten, mussten die Ursache sein: Plätschern des Wasserhahns, jetzt schon eine ganze Weile. Wäscht sie sich womöglich? Was ist denn jetzt los? Klappern des Zahnputzbechers! War da irgendwas ausgemacht? Vielleicht ein Besuch bei einem der Kinder in Frankfurt oder in München? Kaum, das hätte er nicht vergessen, außerdem hätte er dann bedeutend unruhiger geschlafen.
Dann das Schließen der Badezimmertür und der Blick seiner angezogenen Frau in das Schlafzimmer: »Jan, bist du wach?«
»Was ist denn los?«
»Ich muss mal ins Frauenhaus. Schlaf ruhig weiter!«
Entwarnung. Kam zwar selten vor, aber ab und zu musste Eva als ehrenamtliche Helferin der »Frauen in Not« die Bereitschaft für eine der Hauptamtlichen übernehmen. Vielleicht ein Anruf der Polizei, weil irgendeine Frau sich zur Unzeit gegen ihren Mann entschieden hatte. Eigentlich nichts Ungewöhnliches für das Selber Frauenhaus. Kral kuschelte sich entspannt in das Bettzeug. Ausschlafen und anschließend ein ausgiebiges Frühstück!
Das Klingeln des Telefons vom unteren Stock her ließ ihn aufschrecken. Verdammt! Sie ist doch gerade erst …! Blick auf den Wecker. Von wegen: Kurz nach sieben! Kann eigentlich nur Eva sein. Wird wohl länger dauern! Kurzes Abwägen: Wenn du jetzt aufstehst und nach unten gehst, brauchst du dich nicht mehr ins Bett zu legen. Bleibst du liegen, ist sie sauer, denn umsonst ruft sie nicht an. Außerdem bimmelt es ja immer noch! Muss also irgendwie wichtig sein. Also sieh zu, dass du nach unten kommst!
Der Wortschwall einer männlichen Stimme blieb zunächst unverständlich.
»Moment, würden Sie bitte etwas langsamer …!«
»Iich bin’s, verstäihst me?«
Wenig informativ, aber das etwas lallende Nuscheln ließ eigentlich nur einen Schluss zu: Am anderen Ende der Leitung musste Hans Breitfelder sein, ein »Kunde« seiner Frau, die Sozialarbeiterin war. Der Witwer hatte vor einiger Zeit eine Wohnung bezogen, die genau dem Frauenhaus gegenüber lag. Schon öfter hatte er seine Anrufe entgegengenommen. Die verwaschene Aussprache, so hatte ihm Eva das erklärt, komme davon, dass er gerne auf sein Gebiss verzichte, das hinten und vorne nicht passen wolle. Außerdem neigte er zum distanzlosen »Du«, auch bei Personen, die er kaum kannte.
»Was ist denn los? Wissen Sie, wie viel Uhr es ist?«
»Frale scho, ower woist du, wos dou lous is?«
»Wo?«
»No dou, vo uns in der Strouß. Iberraal Bolizei! Dej hamm des Frauahaus iberfalln.«
»Was!« Kral schluckte und rang nach Worten. »Und Eva, was ist mit meiner Frau?«
»Des wois iich niat, ich ho se niat gsäa.«
»Ich danke Ihnen, komme gleich.«
Breitfelder wollte zwar noch etwas sagen, aber Kral hatte schon den Hörer in die Halterung geknallt und stürmte nach oben. Panik hatte ihn erfasst: Das musste ja mal so kommen, dass einer dieser Wahnsinnigen Amok läuft und seine Frau mit der Waffe in der Hand aus dem Frauenhaus holen will. Während er sich hastig anzog, dann kurz das Bad betrat, um etwas Wasser in den Mund, ins Gesicht und an die Haare zu bringen, fragte er sich: Messer oder Pistole? Kral entschied sich für das Messer, denn die Idioten, die ihre Frauen drangsalierten, drohten ihnen häufig mit dem Abstechen. Natürlich: Nicht gleich an das Schlimmste denken! Trotzdem wollte das Bild nicht weichen: Eva in einer Blutlache auf dem Boden des Frauenhausbüros.
Sie hatte wohl von hier aus versucht, die Polizei anzurufen.
Kein Autoschlüssel am Haken! Logisch, den Wagen hatte Eva. Also ein Taxi! Verflucht, wo fliegt das blöde Telefonbuch rum? Zehn Minuten Warten können zur Ewigkeit werden, wenn die Erwartung schnellen Vollzug verlangt!
»Marienbader Straße!«
Der Fahrer des Taxis zeigte sich zweifelnd: »Ich weiß nicht, ob wir da reinfahren können. Da ist irgendwas los. Ich bin vor einer halben Stunde von Längenau
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