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Wildwood

Wildwood

Titel: Wildwood Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Meloy
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sichtbaren Flaum seiner Haare verheddert. Nun teilte sich der Schwarm in zwei Gruppen: Eine umringte weiterhin die wenigen Krähen, die Mac trugen, während die andere davonstob und die Baumwipfel umkreiste. Auf einmal ließen zwei der Krähen Macs Strampler los. Prue schrie auf. Die verbleibenden Vögel hatten alle Mühe, ihn festzuhalten. Prue sah, wie ihr Bruder aus den Klauen rutschte – und abstürzte. Doch da schoss schon die zweite Krähengruppe heran und fing Mac geschickt auf, und noch ehe er sich dem Boden auch nur nähern konnte, war er wieder in der Wolke der lärmenden Vögel verschwunden. Daraufhin vereinigten sich die beiden Gruppen erneut, zogen noch eine Schleife und schossen dann stürmisch vom Spielplatz in Richtung Westen davon.
    Fest entschlossen, irgend etwas zu tun, raste Prue zu ihrem Fahrrad und nahm die Verfolgung auf. Ohne Macs roten Anhänger kam sie rasch in Fahrt und flitzte auf die Straße. Zwei Autos konnten gerade noch bremsen, als sie die Kreuzung vor der Bücherei überquerte. »Pass gefälligst auf!«, rief jemand vom Bürgersteig. Aber Prue wagte nicht, den Blick von den schwebenden, bebenden Krähen weit vor sich abzuwenden.
    Ihre Beine waren nur noch ein verschwommener jeansblauer Fleck über den Pedalen, als Prue das Stoppschild an der Richmond Street, Ecke Ivanhoe überfuhr und das wütende Gebrüll eines Passanten auf sich zog. Schlitternd nahm sie die Kurve in Richtung Süden. Ohne das Gewirr aus Häusern, Vorgärten, Straßen und
Stoppschildern, durch das Prue sich schlängeln musste, kamen die Krähen natürlich gut voran. Prue befahl ihren Beinen, noch schneller zu treten, um keinen Preis durfte sie sich abhängen lassen. Sie hätte schwören können, dass die Vögel auf dieser Verfolgungsjagd mit ihr spielten, dass sie immer mal wieder etwas zurückflogen, tief herabsanken und die Dächer der Häuser umflatterten, nur um dann einen großen Bogen zu beschreiben, abrupt zu beschleunigen und erneut gen Westen zu schnellen. In diesen Momenten erhaschte Prue einen flüchtigen Blick auf ihren in den Krallen seiner Entführer schaukelnden Bruder, bevor er wieder im Wirbelwind der Federn verschwand.
    »Ich komme dich holen, Mac!«, brüllte sie. Tränen strömten über ihre Wangen, aber sie konnte nicht sagen, ob sie weinte oder die kalte Herbstluft daran schuld war, die ihr beim Fahren ins Gesicht schlug. Ihr Herz klopfte wie wahnsinnig, aber ihre Empfindungen waren seltsam gedämpft; sie konnte immer noch nicht fassen, dass all dies tatsächlich passierte. Ihr einziger Gedanke war, ihren Bruder zurückzuholen. Und sie schwor sich, ihn niemals wieder aus den Augen zu lassen.
    Wildes Gehupe ertönte von allen Seiten, während Prue sich im Zickzack einen Weg durch den dichten Verkehr auf der St. Johns Street bahnte. Ein Müllwagen vollführte mitten auf der Willamette Street in aller Ruhe ein Wendemanöver und versperrte die Straße, sodass Prue gezwungen war, auf den Bordstein auszuweichen und
dort weiterzurasen. Eine Fußgängergruppe sprang kreischend zur Seite. »Sorry!«, rief Prue. Prompt machten die Krähen in einem spitzen Winkel kehrt, und Prue musste heftig bremsen. Jetzt flogen sie ganz tief hintereinander in einer Reihe und genau auf sie zu. Prue stieß einen Schrei aus und duckte sich, als die Krähen über ihren Kopf hinwegsegelten und die Federn ihre Haare streiften. Sie hörte ein deutliches Glucksen und ein lautes »Puuuh!« von Mac – und schon war er wieder weg und die Krähen zurück auf ihrem Kurs nach Westen. Prue trat wieder in die Pedale und machte einen Satz zurück auf den schwarzen Asphalt der Straße. Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als sie den Aufprall des Fahrrads mit den Händen am Lenker abfing. Kurz entschlossen schlug sie einen scharfen Bogen nach rechts in eine Nebenstraße, die sich durch eine neue Siedlung aus identischen, weiß gestrichenen Doppelhäusern wand. Allmählich fiel der Boden sanft ab, Prue wurde schneller und das Fahrrad klapperte und wackelte unter ihr. Und dann hörte die Straße unvermittelt einfach auf.
    Sie war am Kliff angekommen.
    Hier auf der östlichen Seite des Willamette-Flusses befand sich die natürliche Grenze zwischen der dicht besiedelten Gemeinde von St. Johns und dem Flussufer: eine fünf Kilometer lange, steile Felswand, die einfach nur »das Kliff« genannt wurde. Prue schrie auf und bremste so heftig, dass sie beinahe über den Lenker und den Abhang hinuntergesegelt wäre. Die Krähen hatten das

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