Wildwood
Undurchdringliche Wildnis nie wieder zur Sprache gekommen – was Prues Neugier aber keineswegs gestillt hatte. Die Sache beunruhigte sie; schließlich hatten selbst ihre Eltern, die normalerweise eine Quelle der Kraft und Zuversicht waren, sich von den Geräuschen erschüttern lassen. Sie schienen diesem Ort genauso wenig zu trauen wie Prue.
Umso größer war Prues Entsetzen, als sie nun mit ansehen musste, wie die schwarze Krähenwolke mit ihrem kleinen Bruder im Schlepptau in der Finsternis der Undurchdringlichen Wildnis verschwand.
Der Nachmittag war inzwischen fast gänzlich zur Neige gegangen, die Sonne hing tief hinter den Hügeln der Wildnis, und Prue stand wie angewurzelt am Rande des Kliffs. Unter ihr zuckelte eine Lokomotive vorbei und rollte über die Eisenbahnbrücke und die darunter liegenden Backstein- und Metallgebäude der Industriewüste hinweg. Es war windig geworden, und Prue bibberte in ihrer Jacke. Sie starrte zu dem schmalen Spalt zwischen den Bäumen, durch den die Krähen verschwunden waren.
Es fing an zu regnen.
Sie fühlte sich, als hätte ihr jemand ein Loch in der Größe eines
Basketballs in den Magen gebohrt. Ihr Bruder war weg, buchstäblich von Vögeln gefangen und in eine abgeschiedene, unerreichbare Wildnis verschleppt worden, und wer konnte schon ahnen, was sie dort mit ihm machen würden. Und das war alles ihre Schuld. Das Licht hatte sich von hellgrau in dunkelgrau verwandelt, und die Straßenlaternen leuchteten nun eine nach der anderen auf. Der Abend war hereingebrochen. Prue wusste, dass sie hier vergebens wartete. Mac würde nicht zurückkehren. Langsam wendete sie ihr Fahrrad und schob es hinauf zur Straße. Wie sollte sie es ihren Eltern sagen? Sie wären vollkommen am Boden zerstört. Prue würde bestraft werden. Gelegentlich hatte sie schon Hausarrest bekommen, weil sie an Schultagen abends zu lange mit dem Fahrrad in der Nachbarschaft herumgekurvt war. Aber dieses Mal würde die Strafe garantiert anders ausfallen als alles, was sie bisher erlebt hatte. Sie hatte Mac verloren, den einzigen Sohn ihrer Eltern. Ihren Bruder. Wenn eine Woche ohne Fernsehen die übliche Strafe für ein paar Mal zu spät nach Hause kommen war, mochte sie sich gar nicht ausmalen, was auf den Verlust ihres kleinen Bruders stand. Benommen lief sie durch die Straßen. Immer wieder hatte sie das Bild der Krähen vor Augen, die in den Wald flogen, und sie kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an.
»Reiß dich zusammen, Prue!«, sagte sie laut und wischte sich über die Wangen. »Denk gefälligst nach!«
Sie holte tief Luft, ging im Kopf alle möglichen Lösungen durch
und wog systematisch das jeweilige Für und Wider ab. Zur Polizei zu gehen, kam nicht in Frage; die würden sie zweifellos für verrückt halten. Prue wusste zwar nicht, was die Polizei mit Verrückten machte, die auf die Wache kamen und von Krähenschwärmen und entführten Kleinkindern faselten, aber sie hatte da so einen Verdacht: Man würde sie in einem gepanzerten Wagen abtransportieren und irgendwo weit weg in einer Anstalt in eine unterirdische Zelle stecken, wo sie sich das Klagen ihrer Mitinsassen anhören musste und verzweifelt versuchen würde, den ab und zu vorbeilaufenden Hausmeister davon zu überzeugen, dass sie nicht wahnsinnig und nur irrtümlich dort eingesperrt war – und das bis ans Ende ihrer Tage. Aber die Vorstellung, nach Hause zu fahren und es ihren Eltern zu erzählen, machte Prue erst recht schreckliche Angst; es würde ihnen das Herz brechen. Sie hatten so lange auf Mac gewartet. Die ganze Geschichte kannte Prue nicht, aber sie wusste, dass die beiden sich schon früher ein zweites Kind gewünscht hatten, es aber einfach nicht geklappt hatte. Als Mac sich schließlich ankündigte, waren sie so glücklich gewesen. Sie hatten über das ganze Gesicht gestrahlt, und das gesamte Haus war plötzlich von Lebendigkeit und Leichtigkeit erfüllt gewesen. Nein, sie konnte ihnen diese furchtbare Nachricht unmöglich überbringen. Weglaufen – das ginge, das wäre durchaus eine Möglichkeit. Sie könnte auf einen der Züge aufspringen, die über die Eisenbahnbrücke fuhren, aus der Stadt abhauen und von Ort zu Ort reisen, sich mit Gelegenheitsjobs und Wahrsagen
ihren Lebensunterhalt verdienen. Vielleicht würde sie sogar einen kleinen Golden Retriever finden, der ihr bester Freund würde. Dann könnten sie zusammen durchs Land streifen wie zwei Zigeuner auf der Flucht, und sie müsste nie wieder ihren Eltern
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