Wildwood
gegenübertreten oder an ihren lieben, verlorenen Bruder denken.
Mitten auf dem Bürgersteig hielt Prue inne und schüttelte traurig den Kopf.
Was soll das? , schalt sie sich selbst. Du spinnst ja komplett! Sie holte erneut tief Luft und schob ihr Fahrrad weiter. Ein eiskalter Schauer überlief sie, als sie erkannte, dass es nur eine einzige Möglichkeit gab.
Sie musste ihn suchen.
Sie musste in die Undurchdringliche Wildnis gehen und ihn suchen. Es war eigentlich unmöglich, aber sie hatte keine andere Wahl. Der Regen war stärker geworden und prasselte auf Gehwege und Straßen und erzeugte riesige Pfützen, auf denen ganze Flotten von Herbstlaub schwammen. Prue schmiedete ihren Plan und wog dabei sorgfältig die Gefahren eines solchen Abenteuers ab. Abendkühle legte sich über die verregneten Straßen; sich im Dunkeln in den Wald zu wagen, wäre zu riskant. Ich gehe morgen, dachte sie, ohne zu bemerken, dass sie einige der Worte laut vor sich hin murmelte. Gleich morgen früh. Paps und Mama müssen es gar nicht erfahren. Aber wie sollte sie es vor ihnen verbergen? Ihr wurde schwer ums Herz, als sie den Ort der schaurigen Entführung erreichte: den
Spielplatz. Das Klettergerüst lag verlassen im strömenden Regen da, und Macs kleiner roter Anhänger stand auf dem Asphalt. Die zerknüllte Steppdecke darin war völlig durchweicht. »Das ist es!«, rief Prue und rannte zum Wagen. Sie kniete sich auf den nassen Boden und knetete die triefnasse Decke in die Form eines eingewickelten Babys. Dann trat sie zurück und betrachtete ihr Werk. »Durchaus überzeugend«, befand sie. Gerade als sie den Anhänger wieder an der Hinterachse ihres Fahrrads befestigte, hörte sie eine Stimme:
»Hallo Prue!«
Prue erschrak und blickte über die Schulter zurück. Auf dem Gehsteig neben dem Spielplatz stand ein unbekannter Junge in Regenjacke und Regenhose. Da zog er die Kapuze zurück und lächelte. »Ich bin’s, Curtis«, rief er und winkte.
Curtis ging in Prues Klasse. Er wohnte mit seinen Eltern und seinen beiden Schwestern gleich bei Prue um die Ecke, und in der Schule standen ihre Pulte nur zwei Reihen voneinander entfernt. Curtis hatte immer Ärger mit der Lehrerin, weil er während des Unterrichts ständig Bilder von Comic-Superhelden und den Kämpfen gegen ihre jeweiligen Erzfeinde zeichnete. Auch bei seinen Klassenkameraden kam dieser Tick nicht sonderlich gut an, da sie das Superheldenzeichnen schon vor Jahren aufgegeben hatten, wenn nicht sogar das Zeichnen überhaupt. Die meisten von ihnen lebten ihr künstlerisches Talent inzwischen auf dem braunen Packpapiereinband ihrer Schulbücher aus, auf das sie die verschiedenen Logos
ihrer Lieblingsbands kritzelten. Prue gehörte zu den wenigen Kindern, die sich von Superhelden- und Märchenbildern zu Vogel- und Pflanzenzeichnungen hin entwickelt hatten. Dafür warfen ihr die Klassenkameraden zwar schiefe Blicke zu, ließen sie aber ansonsten in Ruhe. Curtis dagegen wurde für sein unerschütterliches Beharren auf einer so rückständigen Kunstform gemieden.
»Hallo Curtis«, sagte Prue so ungezwungen wie möglich. »Was machst du denn hier?«
Er setzte die Kapuze wieder auf. »Ich wollte nur spazieren gehen. Ich laufe gern im Regen rum. Weniger Leute unterwegs.« Er nahm seine Brille ab und zog sein T-Shirt ein Stück unter der Jacke hervor, um sie zu putzen. Curtis’ rundes Gesicht war von einem Gewirr schwarzer, lockiger Haare umgeben, die aus seiner Kapuze hervordrängten wie kleine Stahlwollkringel. »Warum führst du Selbstgespräche?«
Prue erstarrte. »Was?«
»Du hast mit dir selbst gesprochen. Da hinten.« Er deutete in Richtung Kliff und setzte blinzelnd seine Brille wieder auf. »Ich bin dir irgendwie nachgelaufen, oder so. Eigentlich wollte ich mich schon früher bemerkbar machen, aber du hast so … verwirrt ausgesehen.«
»Stimmt gar nicht«, war alles, was Prue dazu einfiel.
»Du bist da langgegangen und hast mit dir selbst geredet, und dann bist du stehen geblieben und hast den Kopf geschüttelt und
lauter komische Sachen gemacht«, fuhr er fort. »Und warum hast du überhaupt so lange am Kliff gestanden? Und einfach in die Luft gestarrt?«
Prue wurde ernst. Sie schob ihr Fahrrad zu Curtis und hielt ihm den Zeigefinger unter die Nase. »Hör mir mal gut zu, Curtis.« Sie versuchte, so furchteinflößend wie möglich zu klingen. »Ich hab gerade viel um die Ohren, ich kann jetzt wirklich nicht auch noch dein Generve brauchen, klar?«
Zu ihrer
Weitere Kostenlose Bücher