Wilhelm II
wenige Wochen bevor er den Text des Daily Telegraph- Artikels erhalten hatte, hatte er von Norderney aus an Valentini geschrieben und betont, wie wichtig es war, mit Wilhelm eine Vereinbarung zu treffen, dass er sich darauf beschränken werde, ausschließlich vollständig vorbereitete und amtlich geprüfte Reden zu verlesen, während er durch die »Reichslande« Elsass und Lothringen reiste. 72 Kurzum, für die Annahme, dass Bülow das Interview nicht gelesen hatte, spricht im Grunde nur sein eigenes nachdrückliches Dementi. Doch mit Blick auf sein beeindruckendes Talent, Angelegenheiten, die seinem Ruf schaden würden, falsch darzustellen, ist dies kaum überzeugend. 73 Somit bleibt der Verdacht bestehen – den Wilhelm damals mit Sicherheit hegte -, dass Bülow das Interview gelesen hatte, bevor es zur Veröffentlichung frei gegeben wurde. Da Wilhelm dies glaubte, war er zwangsläufig tief betrübt über die »Rette sich wer kann«-Reaktion des Kanzlers auf die Krise und über die anschließenden Bemühungen, in politischen Kreisen Anhänger für die Anschauung zu finden, dass der Kaiser die Hauptverantwortung für die Ereignisse trage. Bestenfalls kam dieses Verhalten einer Feigheit vor dem Feinde gleich; schlimmstenfalls ließ es auf einen böswilligen Plan schließen, um die Autorität des Kaisers zu untergraben. 74 Es ist insofern kein Wunder, dass die Daily Telegraph- Affäre den letzten Rest von Vertrauen zerstörte, der in der Beziehung zwischen Wilhelm und dem Kanzler noch vorhanden war.
Die Krise versetzte auch der Beliebtheit des Kaisers unter seinen Untertanen einen herben Dämpfer. 75 Die Pressekritik, die auf die Veröffentlichung des Interviews in deutscher Sprache folgte, setzte neue Maßstäbe an Schärfe und Radikalität: »Die Presse
sämtlicher Parteien hatte die Person des Souverän noch nie so heftig angegriffen.« 76 Wie nicht anders zu erwarten, war Wilhelm aufgebracht über die ungestüme Woge der Kommentare. In einem Brief an Zar Nikolaus vom Mai 1909 beschwerte er sich, dass er den Eindruck habe, man gebe ihm »die Schuld« an den kontinentalen Spannungen, die auf die Annektierung Bosnien-Herzegowinas durch Österreich (im Oktober 1908) gefolgt waren. »Insbesondere die Presse allgemein hat sich auf niederträchtigste Weise mir gegenüber verhalten.« 77 Womöglich hat er damit Recht. Man braucht die Unbedachtheiten Wilhelms keineswegs zu entschuldigen, um zu erkennen, dass es gerade ihretwegen – den Politikern, der Öffentlichkeit ebenso wie den Historikern – verführerisch leicht fiel, dem »Mann an der Spitze« die Schuld an komplexen Problemen und kollektiven Fehlern zu geben. Dass Wilhelms Interview mit Stuart-Wortley dumm und unüberlegt war, liegt auf der Hand; doch die Auffassung, dass es die Beziehungen zwischen Deutschland und einer anderen Macht ernstlich getrübt habe, ist geradezu absurd. In ihrem Zorn über das Daily Telegraph- Interview fanden politisch informierte Bürger ein Ventil für eine tief empfundene Angst aufgrund des Abdriftens in eine internationale Isolation, das seit dem Abschied Bismarcks, vor allem aber seit der Marokkokrise von 1905 eingesetzt hatte. Für diese epochale Veränderung der internationalen Stellung Deutschlands kann man jedoch kaum Wilhelm die Schuld geben.
Während der Reichstagsdebatte um die Daily Telegraph- Affäre am 10./11. November äußerten einige besonders weltfremde (in diesem Fall linksliberale) Abgeordnete gar die Hoffnung, die Krise werde die Durchsetzung konstitutioneller Beschränkungen für den Monarchen ermöglichen. Doch diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Mit wenigen Ausnahmen konzentrierten sich die Parteien mit ihrer Kritik auf Wilhelms persönliche Fehleinschätzungen und ließen grundlegendere Verfassungsfragen außen vor; ein Plan, die Bundesfürsten zu einem förmlichen Protest nach Berlin zu rufen, wurde fallen gelassen. Bülow zögerte, Wilhelm in dieser Frage unter Druck zu setzen – warum kann
man sich denken! -, und die Krise verlief wie die meisten Krisen allmählich im Sande, ohne dass sich die politische Landschaft in Deutschland dauerhaft verändert hätte.
Die Auswirkung der Daily Telegraph- Affäre auf Wilhelms Gemütszustand ist häufig beschrieben worden: Zwei Wochen lang war der 50-jährige Kaiser von einem »Nervenzusammenbruch« wie gelähmt. Danach hatte er, wie Valentini berichtete, »ein gutes Stück seiner alten Lebensaktivität« verloren und verfiel in eine Stimmung »müder
Weitere Kostenlose Bücher