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Wilhelm II

Wilhelm II

Titel: Wilhelm II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clark Christopher
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Resignation«. 78 In den folgenden Monaten vermied er öffentliche Erklärungen und hielt sich zurück. Irgendwann brach er unweigerlich sein Schweigen und löste erneut Entrüstungsstürme seitens der mittlerweile äußerst sensibilisierten Presse aus. Im Sommer 1910 ermahnte Wilhelm in einem Trinkspruch anlässlich eines Festessens in Königsberg seine Zuhörer, dass ihm die preußische Krone allein durch Gottes Gnade und »nicht von Parlamenten, Volksversammlungen Volksbeschlüssen« verliehen worden sei, und dass der Kaiser »das auserwählte Instrument des Himmels« sei. 79 Leitartikel in den großen Tageszeitungen stellten mit Bedauern fest, dass der Kaiser die Selbstbeschränkung aufgegeben habe, die er seit den schwarzen Novembertagen von 1908 eingehalten habe; und der Wortlaut der Rede wurde Absatz für Absatz analysiert, wobei die Autoren vor allen Dingen an der schicksalhaften und absolutistischen Rhetorik Anstoß nahmen. 80 Aber schon an dem Ausbleiben größerer Presseskandale in den folgenden Jahren lässt sich ablesen, dass der Kaiser erfolgreich mundtot gemacht worden war. 81 In einem Telegramm an Bethmann stellte Wilhelm wehmütig fest, dass die Presse nunmehr, dank der Machenschaften Bülows, den privilegierten Status eines Schiedsrichters genieße, »mit einem Vorrecht […] über alle entscheidend mitzureden, zumal über höchste Stellen«. 82
     
    »Das ganze Leben Wilhelms II. ist eigentlich eine fortgesetzte Stabilisierung seiner Souveränität«, stellte ein kritischer Kommentar 1913 in der linksliberalen Zeitschrift März fest. »Wer weiß denn
bei uns überhaupt, dass das deutsche Reich eigentlich, nämlich staatsrechtlich, eine Republik und der Kaiser nur ein Zentralbeamter ist?« 83 Bei aller Übertreibung brachte diese provokative Formulierung ein zentrales Problem der Herrschaft Wilhelms II. zur Sprache. Dem kaiserlichen Amt fehlte eine solide Grundlage in der deutschen Verfassung. Die Verfassung sagte kaum etwas über die Rolle und die Vollmachten des Kaisers aus, dessen Amt unter der unscheinbaren Überschrift »Vorsitzender des Bundesrats« erörtert wurde. Dem kaiserlichen Amt fehlte zudem auch eine politische Tradition. In einer berühmten Rede vor dem Reichstag bemerkte der Nationalliberale Friedrich Naumann, dass das deutsche Parlament mangels einer revolutionären Tradition auch ohne den Nimbus einer »Volkslegende« auskommen müsse. Dasselbe könnte man jedoch auch von der Kaiserkrone sagen. Das Kaisertum des Hochmittelalters und der frühneuzeitlichen Habsburgischen Reichstradition lagen zeitlich so weit zurück und waren so andersartig, dass sie kaum als glaubwürdiger Vorläufer der Konstellation von 1871 in Frage kamen. Diese fehlende Kontinuität mit früheren politischen und konstitutionellen Realitäten äußerte sich in der geringen Zahl etablierter, zeremonieller Traditionen, die mit dem deutschen Kaiserthron in Verbindung gebracht wurden. Es fand keine Kaiserkrönung statt – das wohl erstaunlichste Manko -, und abgesehen von der Rangordnung, die die Sitzordnung bei Festessen und Hofbanketten festlegte, gab es kaum etwas, was einer kaiserlichen Etikette gleichkam. Die Herrschaft Kaiser Wilhelms I., der sich mit seinem neuen Titel nie wohlgefühlt hatte und weiterhin als preußischer König aufgetreten war, hatte nicht dazu beigetragen, dieses Defizit zu beheben. Im Grunde war Bismarck, und nicht der erste Kaiser, die wichtigste, integrative Persönlichkeit des deutschen Reichs.
    Wilhelm II. war jedoch bei der Thronbesteigung entschlossen, die kaiserliche Dimension seines Amtes auszufüllen. Er reiste unablässig durch die deutschen Bundesstaaten; er glorifizierte seinen Großvater als den heiligen Krieger, der dem
deutschen Volke ein neues Zuhause gebaut hatte, und er führte neue Feiertage und Gedenkfeiern ein, um sozusagen die konstitutionelle und kulturelle Blöße des Throns in den Mantel einer »nationalen« Geschichte zu kleiden. Sich selbst präsentierte er der deutschen Bevölkerung als die Personifizierung des »Reichsgedankens«. In seinem unablässigen Bemühen, die Kaiserkrone als politische und symbolträchtige Realität in den Köpfen der Deutschen zu verankern, spielten die Reden eine wesentliche Rolle. Sie waren Instrumente der »rhetorischen Mobilmachung«, die dem Kaiser eine einzigartige Stellung im öffentlichen Leben in Deutschland sicherte. 84 Für Wilhelm persönlich boten sie eine gewisse Entschädigung für die politische Beschränkung und

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