Wilhelm II
These, dass sich ein zunehmend radikaler Antisemitismus wie ein roter Faden durch das Erwachsenenleben des Kaisers hindurchziehe. Er hat Wilhelm als »Vorbote Hitlers […], sozusagen das Bindeglied zwischen dem ›Eisernen Kanzler‹ und dem ›Führer‹« bezeichnet. 80
Man kann die Abscheu kaum beschreiben, die unsereiner bei solchen Worten empfindet, weil wir wissen, welche Verbrechen das NS-Regime an den europäischen Juden von 1938 bis 1945 begangen hat. Dennoch scheint mir Röhls Schlussfolgerung in mancher Hinsicht problematisch. Zunächst stellt sich die
Frage, was mit dem »Bindeglied« zwischen Bismarck und Hitler gemeint ist, bedenkt man, dass die intellektuelle Entwicklung und Ausrichtung des letzteren in der völlig anderen politischen und ideologischen Umgebung des Habsburgerreiches verortet war. Ebenso wenig kann man behaupten, dass Wilhelm in irgendeiner Form für Hitler den Weg zur Macht geebnet hätte – wie wir noch sehen werden, war seine Haltung gegenüber der NS-Bewegung in erster Linie von Misstrauen und Feindseligkeit geprägt. Schließlich stellt sich die Frage, ob man Wilhelms »Platz in der Geschichte« in der von Röhl vorgeschlagenen Weise durch die Verfechtung einer rassistisch-antisemitischen Weltanschauung definieren kann. Mit Sicherheit teilte Wilhelm, wie Röhl und andere nachgewiesen haben, sein ganzes Leben lang die antisemitischen Vorurteile, die damals unter den deutschen – und anderen europäischen – Eliten so verbreitet waren. Andererseits pflegte Wilhelm auch, wie Lamar Cecil und Werner Mosse darlegen, enge Freundschaften zu bekannten, reichen Juden, den sogenannten »Kaiserjuden«, zu denen etwa der Reeder Albert Ballin, die Bankiers Max Warburg, Carl Fürstenberg und Ludwig Max Goldberger, der »Baumwollkönig« James Simon, der Kohlmagnat Eduard Arnhold und andere zählten. Gewiss waren diese Beziehungen zum Teil auch von Nutzdenken getragen, in dem Sinne, dass von diesen Unternehmern gelegentlich Spendengelder zugunsten verschiedener Herzensangelegenheiten Wilhelms flossen. Aber sie spiegelten auch Wilhelms aufrichtiges Interesse und seine Hochachtung für Männer wieder, die sich aus eigener Kraft zum Millionär hochgearbeitet hatten. Ferner waren sie eine Quelle für unparteiische Informationen über volkswirtschaftliche Angelegenheiten, die er von seinen Ministern nie erwarten konnte. Schließlich waren die jüdischen Geschäftsmagnaten mit ihrer Weltläufigkeit und Tatkraft eine erfrischende Alternative zu der gelegentlich drögen Atmosphäre in seinem Gefolge. Wilhelm zeigte sich häufig bei Spaziergängen und im Gespräch mit diesen Männern, er saß bei Banketten neben ihnen, lobte sie und dankte ihnen in Ansprachen, plauderte in Synagogen mit ihnen. 81
Es lohnt sich, die Intensität dieser Kontakte näher zu untersuchen. Während Minister der Regierung sich beschwerten, wie schwierig es doch sei, eine Audienz beim Kaiser zu erhalten, fand Wilhelm die Zeit für lange Begegnungen mit Walther Rathenau (von 1912 an Aufsichtsratsvorsitzender von AEG); in den letzten Jahren vor Kriegsausbruch traf er sich mindestens 20 Mal mit Rathenau. Etliche Treffen dauerten sogar mehrere Stunden. Wilhelm war häufiger Gast im Hamburger Haus des »Hofozeanjuden« Albert Ballin und besuchte die Familie bis zu sechs Mal im Jahr. 82 Er suchte Franz von Mendelssohn in Berlin-Grunewald auf, um sich »Ratschläge« für die Inneneinrichtung der frisch erworbenen Güter zu holen. Während die ersten beiden deutschen Kaiser in den Jahren 1871-1888 nur zwei Juden in den Adelsstand erhoben, adelte Wilhelm II. sieben – hinzu kamen etliche konvertierte Juden, darunter viele Männer des Handels und der Industrie, die einen wachsenden Anteil der während der Herrschaft des Kaisers Geadelten ausmachten. Dieser gesellschaftlich offene und vergleichsweise »moderne« Ansatz bei der Herausbildung von Elite entging nicht der Aufmerksamkeit von Zeitgenossen wie dem alldeutschen Nationalisten und Antisemiten Heinrich Claß. In seiner vielgelesenen Schmähschrift von 1912 Wenn ich der Kaiser wär’ fragte Claß (unter einem Pseudonym) seine Leser, wie es denn möglich wäre, »dass er [der Kaiser] gerade nachher ein Gönner der Juden geworden wie selbst nicht sein instinktloser Oheim Eduard, indem er reichgewordene jüdische Unternehmer, Bankiers und Großhändler in seinen Verkehr zog, adelte, und selbst ihren Rat holte«. 83 Tatsächlich ließ die Vorliebe des Kaisers für diese begabten
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