Wilhelm II
Repräsentanten des modernen, wirtschaftlichen und industriellen Lebens – gerade unter dem niederen, preußischen Adel – ein wachsendes Gefühl der Entfremdung vom Hof aufkommen, der nun zunehmend als Unterschlupf eines jüdischen »Finanzadels« empfunden wurde. An der Spitze dieses Hofes aber stand ein »liberaler« Kaiser, der sich vom alten Adel abgewandt hatte. 84
Wilhelms Antisemitismus war reaktiv: Er erreichte tendenziell dann einen Höhepunkt, wenn er sich unter Beschuss fühlte, insbesondere seitens der Presse wie zum Beispiel während der Stoecker-Affäre oder im Nachspiel der Daily Telegraph- und Eulenburg-Krise. Damals richtete sich sein ganzes Gift in erster Linie gegen den kritischen, jüdischen Journalisten Maximilian Harden. Aber zu keiner Zeit versuchte er, über die Gesetzgebung die Freiheiten einzuschränken, die deutsche Juden in den Emanzipationsgesetzen von 1869 erworben hatten. Und es gibt auch keinerlei Anzeichen dafür, dass er das jemals ernsthaft vorgehabt oder gewünscht hätte. In aller Öffentlichkeit hatte er sich von den antisemitischen Positionen distanziert, welche die Konservative Partei Anfang der neunziger Jahre vertreten hatte. Im Jahr 1896 ignorierte er die Ansicht seiner Minister, indem er sich für Karl Julius von Bitter, einen Staatsdiener jüdischer Herkunft, als Kandidaten für den Posten des preußischen Handelsministers einsetzte. Hohenlohe hatte Bitter hingegen als »jüdischen Streber« bezeichnet und drohte: »Wenn Bitter zur einen Tür ins Staatsministerium hineinkommt, gehe ich zur andern hinaus.« 85 Im Nachspiel der Kolonialkrise von 1904-1907 wurde Wilhelm zu einem begeisterten Fürsprecher Bernhard Dernburgs, des jüdischen Staatssekretärs für koloniale Angelegenheiten.
Die Flucht ins Exil markierte hier einen entscheidenden Bruch. Wie Willibald Gutsche beobachtet, war die immer intensivere Beschäftigung mit der sogenannten »Judenfrage« keine »singuläre Erscheinung«. 86 Der Antisemitismus gewann in den letzten Kriegsjahren in rechten Kreisen rasch an Boden und hatte in der Anfangsphase der Weimarer Republik enormen Zulauf, der noch durch die Erfahrung einer deutschen Revolution verstärkt wurde, in der den Juden eine herausragende Rolle zugeschrieben wurde. Im Fall Wilhelms vermischte sich eine Verbitterung, die viele Deutsche über die großen Katastrophen der Nation empfanden, mit einem persönlichen Groll, der seine eigene Verbundenheit mit den Ereignissen wiederspiegelte. Wilhelm war intellektuell und emotional unfähig zur Selbstkritik. Er hatte einen »extrapunitiven
Charakter«, wie die Psychologen sagen: Die Schuld an persönlichem Leid gab er stets anderen, und das Wissen, dass er gemeinhin als Hauptinitiator des Krieges und des unrühmlichen Endes seines Reiches angesehen wurde, verstärkte lediglich die Notwendigkeit, Schuld und Verantwortung von sich abzulenken. Durch die Brille des Antisemitismus betrachtet, fanden alle schmerzlichen Unruhen seiner Herrschaft ihren Platz: Die Harden-Kampagne gegen Eulenburg war zum Beispiel die erste Phase einer »jüdischen« Kampagne gegen die Monarchie, die in der Revolution von 1918, dem Zusammenbruch der Westfront, dem verfrühten Tod seiner Frau und dergleichen mehr »kulminierte«. 87 In dem Kokon der irrealen Welt von Doorn, wo er tagtäglich mit den Konsequenzen seines Scheiterns konfrontiert wurde, fand Wilhelm in den gehässigen Wahnvorstellungen des rassistischen Antisemitismus die gesuchten, einfachen Antworten auf die schwierigen Fragen, die ihm keine Ruhe ließen.
Dennoch ist es erstaunlich, dass Wilhelms Antisemitismus nie die Basis für konkrete Aktivitäten oder auch nur für Gesten zur Unterstützung der verschiedenen, antisemitischen Gruppierungen bildete, die in der Republik agitierten. Vielleicht lag dies zum Teil daran, dass die Juden nie die einzige Gruppe waren, der Wilhelm die Schuld an seinem Unglück gab. Tatsächlich machte ihnen eine recht disparate Ansammlung kollektiver Missetäter den ersten Rang streitig: der »Yankee«, die »englische Perfidie«, die Franzosen, die Freimaurerei (mit Ausnahme der drei »altpreußischen« Logen), die Bolschewiken, die Junker, die Sozialdemokraten und noch andere. Hinzu kamen die vielen Einzelpersonen, die ihn in Stunden der Not im Stich gelassen hatten. Als Ludendorff im August 1927 beispielsweise Wilhelm schrieb und ihm versicherte, dass seine (Ludendorffs) völkische Bewegung gegen »Jesuiten, Juden und […] Freimaurerei«
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